Allgegenwärtig und ambivalent Holocaust integraler Bestandteil der nationalen Identität Israels

Jerusalem (rpo). Im israelische Alltag ist der Holocaust auch sechs Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg noch immer ein Trauma und wesentlicher Bestandteil der nationalen Indentität. "Auschwitz gehört zu unserem Alltag, nicht zur Vergangenheit", so ein hoher Politiker und Auschwitz-Überlebender.

Er ist allgegenwärtig, wird im politischen Schlagabtausch ins Feld geführt, ist ein Bezugspunkt in kulturellen Debatten und spielt auch im Nahostkonflikt eine Rolle, etwa in der Debatte über die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel.

Tausende Oberschüler reisen jedes Jahr nach Auschwitz und zu anderen NS-Todeslagern, um einen persönlichen Bezug zur Ermordung von sechs Millionen Juden zu bekommen. Ausländische Staatsgäste werden zur Gedenkstätte Jad Vaschem in Jerusalem geführt, um sie mit der ganzen Dimension des Albtraums zu konfrontieren.

"Auschwitz gehört zu unserem Alltag, nicht zur Vergangenheit", sagt der frühere Parlamentspräsident Schevah Weiss, selbst ein Holocaust-Überlebender. "Alles ist mit der Erinnerung an die dunkle Periode von Auschwitz verbunden."

So sieht sich Bundespräsident Horst Köhler sich mit Boykottdrohungen von Parlamentariern konfrontiert, die nicht wollen, dass er in der nächsten Woche in der Knesset eine Rede auf Deutsch hält.

"Er gehört zur Identität eines Israeli", sagt der Autor Tom Segev, der sich mit der ambivalenten Beziehung Israels mit dem Holocaust beschäftigt hat. In den ersten Jahren nach der Staatsgründung habe die Vorstellung von den Juden als hilfloses Opfer nicht in das nationale Bild von heroischen "neuen Juden" gepasst.

Viele Israelis schauten deshalb herab auf die hunderttausenden Holocaust-Überlebenden, die in das neue Land kamen. Sie konnten ihr Leid nicht bewältigen und versteckten ihre Narben. "In so einer Atmosphäre gab es keinen Platz für die Geschichte des Holocausts", sagt der Schriftsteller Aharon Appelfeld. Das begann sich erst mit dem Eichmann-Prozess 1961 zu ändern, der vom Radio übertragen wurde. Erstmals interessierte sich das ganze Land für die Berichte der Überlebenden.

Das Mitgefühl wuchs weiter im Jom-Kippur-Krieg 1973, als viele Israelis Angst verspürten, dass das Land zerstört und sie ermordet werden könnten - so wie es den europäischen Juden widerfuhr. In den 80er Jahren wurde die Geschichte des Holocausts Pflichtthema in Oberschulprüfungen, und die Bedeutung des Gedenktags wuchs.

Heute lässt die Armee ihre Offiziere Auschwitz besuchen, um sie zu motivieren, die Nation vor künftigen Gräueln zu schützen. Schulen laden Überlebende ein, ihre Geschichte weiterzugeben. Jährlich fahren 21.000 Schüler für acht Tage nach Polen, wo sie die Todeslager, Gettos, die verlassenen Synagogen und jüdische Friedhöfe besuchen.

Adi Rosenzweig hat die Reise stark beeindruckt. "Ich wollte verstehen, wie ein Mensch überleben und seine Fröhlichkeit bewahren kann", sagt die 18-Jährige. Die Familie ihrer Großmutter wurde damals nahezu vollständig ausgelöscht. Der Gedanke an den Holocaust mache sie stolz, eine israelische Bürgerin zu sein, sagt Rosenzweig: "Ich lebe, wir haben eine Heimat, und die Nazis haben nicht gewonnen."

"Es ist alles irrational"

Israel unterhält längst enge Beziehungen zu Deutschland, von denen nicht zuletzt die zahlreichen VW-Fahrzeuge in den Straßen zeugen. Doch Empfindlichkeiten bleiben. Der Dirigent Daniel Barenboim sorgte 2001 für einen Eklat, als er den Boykott gegen Werke Richard Wagners brach und mit der Berliner Staatskapelle in Jerusalem die Ouvertüre zu "Tristan und Isolde" spielte. Wagner hat sich in seinen Schriften antisemitisch geäußert, zudem war er der Lieblingskomponist Adolf Hitlers. Später wurde versucht, die Verleihung eines prestigeträchtigen Preises an Barenboim zu verhindern. Der Musiker entschuldigte sich schließlich, falls er jemanden verletzt habe.

In der politischen Auseinandersetzung wird die Erinnerung an den Holocaust immer wieder missbraucht. In den Monaten vor der Ermordung von Jizchak Rabin zeigten Gegner des Friedensprozesses Plakate, die den Ministerpräsidenten in SS-Uniform zeigten. Im vergangenen Jahr schockierten Siedler die Öffentlichkeit, als sie aus Protest gegen den geplanten Rückzug aus dem Gaza-Streifen orangefarbene Sterne auf ihrer Kleidung trugen, eine Anspielung auf den gelben Judenstern.

Auch manche Befürworter einer Aussöhnung mit den Palästinensern beriefen sich auf den Holocaust, indem sie die Besetzung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens sowie die Behandlung der Palästinenser durch die Israelis mit Nazi-Methoden verglichen.

Viele Palästinenser versuchen ihrerseits, das Leid der Juden herunterzuspielen, in der Sorge, dass ihre eigene Not durch einen Vergleich mit dem Holocaust relativiert werden könnte. Dies hindere sie daran, die Israelis zu verstehen, sagt der Historiker Segev. Im Gegenzug hätten viele Menschen in Israel Angst, in dem Konflikt erneut zum Opfer zu werden. "Es ist alles irrational."

"Es liegt in der Luft, sie können es fühlen", sagt der Direktor der Jad-Vaschem-Gedenkstätte, Avner Schalew. "Die Wunde ist immer noch da. Wir trauern noch, wie versuchen immer noch, es zu bewältigen. Das Trauma ist zu tief und schmerzvoll, und es ist noch nicht vorbei."

(ap)
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