"Mein Kampf" an deutschen Kiosken? Hitler — scheinbar allgegenwärtig

Berlin · Soll das Buch "Mein Kampf" von Adolf Hitler auszugsweise am Kiosk zu kaufen sein? Über diese Frage wird derzeit heftig gestrittten. Eine Debatte, die vom Alltag überholt wird: Denn Hitler scheint allgegenwärtig zu sein. Im Fernsehen, im Theater, in Sachbüchern, im Museum.

 Adolf Hitler schrieb im Jahr 1924 während seiner Inhaftierung in der Festung Landsberg das Buch "Mein Kampf".

Adolf Hitler schrieb im Jahr 1924 während seiner Inhaftierung in der Festung Landsberg das Buch "Mein Kampf".

Foto: ddp

So nahe ist man Hitler zuletzt nur selten gekommen: der Nazi-Führer auf dem Reichsparteitag, beim winterlichen Spaziergang auf dem Obersalzberg mit seinem Leibarzt, vor dem Museum zur "Großen Deutschen Kunstausstellung" 1937, im Sonderzug in Tirol. Und alles in authentischem 3D!

"Das Bild bringt auf einen Schlag dem Menschen Aufklärung", hat Hitler in "Mein Kampf" geschrieben. Und er hat danach gehandelt und seinen "Reichsbildberichterstatter" Heinrich Hoffmann erlaubt, Raumbilder — wie man damals dreidimensionale Fotos nannte — zu machen. Jetzt wurden diese 3D-Fotos also wieder veröffentlicht: "Das Gesicht der Diktatur" heißt das Album.

"Warum wieder ein Buch"

"Warum wieder ein Buch über Hitlers Reich?", fragt der in Tel Aviv geborene Historiker Michael Wolffsohn. Das klingt viel kritischer, als es der Autor meint, schließlich ist die rhetorische Frage dem Vorwort zum Buch entnommen. Diese Warum-Frage bleibt auch am Ende unbeantwortet, und so ist der Buchmarkt wieder um einen Hitler-Titel "reicher".

Es ist natürlich nicht allein dieser Foto-Band, der das Phänomen des scheinbar ewigen Hitler ausmacht. "Hitler sells" ("Hitler verkauft sich."), behaupten die einen und nutzen es: Bis 2010 bestritt allein der "Spiegel" 46 mal sein Titelblatt mit dem Nazi-Führer. Und Hitler hat bis heute einen hohen Unterhaltungswert, sagt der jüdische Publizist Henryk M. Broder. Fest steht, dass Hitler in Kunst, Literatur und Werbung fast 70 Jahre nach Kriegsende allgegenwärtig ist. "Hitler lebt", schreibt Daniel Erk in seinem neuen Buch zu diesem Phänomen, das vor allem die Sorge vor der Banalität des Bösen markiert.

Das Finanzministerium ist zuständig

Diese Sorge teilt in diesen Tagen das bayerische Finanzministerium, das als Rechtsnachfolger des nationalsozialistischen Eher-Verlags das Urheberrecht für Hitlers Machwerk "Mein Kampf" wahrnimmt. Der Freistaat darf bis 2015 (also 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers) über die Veröffentlichung des Buches verfügen.

Der britische Verleger Peter McGee will kommentierte Auszüge aus dem Buch an den Kiosk bringen, wie er das vor drei Jahren schon mit den "Zeitungszeugen" gemachte hatte — dem Nachdruck nationalsozialistischer Hetzblätter wie dem "Völkischen Beobachter". Das war ziemlich spektakulär, aber nicht sonderlich erfolgreich. Schon damals war der Freistaat vor Gericht gezogen; unterlag allerdings in zwei Instanzen. Diesmal gab das Landgericht München Bayern Recht und verbot die Veröffentlichung der Auszüge aus "Mein Kampf".

Brisantes Buch

Ein Engagement wie das von McGee bleibt fragwürdig. Zumal seit vielen Jahren — solide kommentiert — schon andere Nazi-Schriften veröffentlicht wurden. Zu den brisantesten Büchern dieser Art zählen zweifellos die autobiografischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss, einst Kommandant des Konzentrationslagers in Auschwitz. Höss berichtet darin von den Abläufen im Lager, und er kann dem Massenmorden sogar lyrische Seiten abgewinnen. Gerade deshalb ist es ein wichtiges historisches Dokument, mit dem der abgrundtiefe Wahn und der grenzenlose Irrsinn des Systems erschütternd klar zu Tage treten.

Aber Höss ist nicht Hitler — erst recht nicht in unserer Wahrnehmung. Denn auf gespenstische Weise ist der Nazi-Führer derart präsent, dass längst von einer notwendigen Entnazifizierung des Alltags die Rede ist. Das fängt schon bei der Werbung an, wenn etwa eine österreichische Fluggesellschaft Reisen nach Paris mit dem Slogan bewirbt, der am Eingangstor des ehemaligen KZ Buchenwald steht: "Jedem die Seine"; wenn ein Heizkörper-Hersteller die Kunden auffordert: "Erklären Sie der Kältefront den Krieg"; oder das Plakat einer Aids-Kampagne Hitler beim Geschlechtsverkehr abbildet und behauptet, auch Aids sei ein Massenmörder. Empörung und Werbeerfolg waren gleichermaßen groß.

"Entsorgung der Vergangenheit"

Natürlich ist das eine oberflächliche "Entsorgung der Vergangenheit", wie es der Philosoph Jürgen Habermas nannte. Im großen Historikerstreit 1986 hatte er vor jeder Relativierung dieses historisch unvergleichlichen Massenmords gewarnt. Eine große, eine wichtige Debatte damals, die aber vom Alltag einfach weggewischt und offenbar unterlaufen wird.

So gehören Hitler-Vergleiche nach der Studie von Daniel Erk mittlerweile zum unguten Ton gesellschaftspolitischer Rhetorik. Ob Kardinal Meisner Abtreibungen mit den Verbrechen Hitlers vergleicht oder Herta Däubler-Gmelin die Politik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush mit "Adolf Nazi" — Hitler wird dienstbar gemacht für eine finale Diskreditierung des Gegners. Und als Hans Magnus Enzensberger Saddam Hussein einen "Wiedergänger Hitlers" nannte, bewirkte er vor allem das: eine obszöne Verharmlosung des Holocaust.

Adornos Warnung

Der Philosoph Theodor W. Adorno hat früh prophezeit, dass der Faschismus keineswegs mit irgendwelchen braunen Schlägertrupps nach Deutschland zurückkehren wird. Eher in der Gestalt der Massenkultur; und die ist nahezu unangreifbar.

Aber auch in der ernsten Kunst ist Hitler zum Thema geworden. Erschreckend die Arbeit des polnischen Fotografen Andrzej Dragan, der in seinem Werk "Old Hitler" den Nazi-Führer als weißhaarigen Greis zeigt. Nach diesem Bild hat Hitler also überlebt. Hat er auch gesiegt? Wie sieht die Welt jetzt aus? Und wie viele Menschen mussten noch sterben? Diese Fragen sind es, die hinter dem realistischen Bild wie eine Drohkulisse wachsen — es sind erschreckende Was-wäre-wenn-Fragen.

Man wird sich fragen dürfen und müssen, wie unsere Wahrnehmung der Zeit des sogenannten Dritten Reichs sein wird, wenn die letzten Zeitzeugen gestorben sind. Ernüchternd die Einschätzung des Historikers Saul Friedländer: "Irgendwann wird man Bücher über das ,Dritte Reich' und den Holocaust lesen wie heute Cäsars ,Gallischen Krieg'. So wird es kommen, da hilft nichts."

(RP/csi/rm)
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