Hans-Jochen Vogel im Interview „Ich empfehle der SPD eine Doppelspitze“

Berlin · Der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel bekennt im Interview mit unserer Redaktion, dass er von der schwierigen Lage seiner Partei „stark emotional berührt“ ist. Die Grünen nennt er als Vorbild für eine gute Parteiführung und Geschlossenheit.

 Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel (SPD) in der Seniorenresidenz Augustinum in München.

Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel (SPD) in der Seniorenresidenz Augustinum in München.

Foto: imago images /epd

Der 93-jährige Hans-Jochen Vogel schaut mit der gleichen analytischen Schärfe auf die Lage seiner SPD, wie man sie aus seiner Zeit als aktiver Politiker kennt. Zum Interview war er telefonisch erreichbar.

Was muss geschehen, damit die SPD bei der Suche nach einem neuen Parteichef die richtige Wahl trifft?

Vogel Das Wichtigste ist, dass die drei kommissarischen Parteichefs die Schwere und Außergewöhnlichkeit der Krise deutlich machen, in der sich die Partei gegenwärtig befindet. Sie sollten alles tun, um nach den emotional aufregenden Ereignissen wie den Rücktritten von Andrea Nahles die Ruhe in der Partei wiederherzustellen. Nur dann können sorgfältig Überlegungen angestellt werden, welche Sachfragen die Partei jetzt in den Vordergrund rücken muss.

Wie sollte sich die SPD an der Spitze neu aufstellen - Mann, Frau, Duo?

Vogel Für die neue Führung der Partei empfehle ich eine Doppelspitze – einen Mann und eine Frau. Sie müssen die alten Konflikte beenden. Die Öffentlichkeit hat zuletzt von der SPD mehr wahrgenommen, dass sie untereinander streitet, als dass sie mit den politischen Mitbewerbern die Auseinandersetzung führt.

Bislang hat die SPD mit kollektiver Führung nicht so gute Erfahrung gemacht.

Vogel Woran denken Sie?

An die Troika Lafontaine, Schröder und Scharping sowie an Brandt, Wehner und Schmidt.

Vogel Das ist etwas anderes. Das waren jeweils drei Männer, die in der Partei ein besonderes Gewicht hatten. Außerdem drangen Meinungsverschiedenheiten zwischen Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt nur ganz selten an die Öffentlichkeit und es gab immer nur einen Vorsitzenden. Nun geht es darum, dass wie bei den Grünen ein Mann und eine Frau den Vorsitz bekommen. Die müssen natürlich miteinander harmonieren, kooperieren und in gleicher Weise präsent sein. Sie dürfen ihre Rolle nicht verstehen wie Frau Wagenknecht bei den Linken.

Man hat den Eindruck, dass die Grünen der SPD das Image der Fortschrittspartei abgeknöpft haben. Sehen Sie das auch so?

Vogel Die Grünen haben es geschafft mit dem Klimawandel ein Thema, das uns alle angeht, als das ihre zu deklarieren, insbesondere bei der Europawahl. Wir und auch die Union haben unterschätzt, wie sehr diese Frage die Menschen bewegt und zwar nicht nur die Jungen, die freitags auf die Straße gehen. Zudem haben die Grünen ihre inneren Auseinandersetzungen zurückgefahren. Auch daran könnte sich meine Partei ein Beispiel nehmen.

Sind Sie verzweifelt, wenn Sie sich die Umfragewerte und Wahlergebnisse der SPD anschauen?

Vogel Das hat mich schon stark emotional berührt, vor allem in München, einer Stadt, in der zu meiner Zeit alle Münchner Landtags- und Bundestagsmandate in sozialdemokratischer Hand waren. Das war eine Selbstverständlichkeit. Dass wir da nun bei zwölf Prozent liegen, das hat mich außerordentlich bewegt, weil ich auch an meine eigenen Wahlergebnisse als Oberbürgermeister gedacht habe. Aber die SPD hat schon ganz andere Krisen im Laufe ihrer 155-jährigen Geschichte bestanden.

Sie erwähnen 155 Jahre Parteigeschichte – in der Nachkriegszeit ist die aktuelle Krise die schlimmste, oder?

Vogel Es ist für die Nachkriegszeit sicherlich die schwerste Krise und zwar erstens wegen der Wahlergebnisse und zweitens weil die Vorsitzende in dieser Art und Weise ihren Rücktritt erklärt hat und diesen wohl auch so erklären musste. Das macht die Besonderheit dieser Krise aus. Wenn man auf andere europäische Länder schaut, sieht man, dass es bei den dortigen Sozialdemokraten – so etwa in Frankreich - noch schlimmere Krisen gibt als bei uns. Zugleich gibt es aber auch ermutigende Erfolge – so etwa in Spanien, Portugal, den Niederlanden und in Dänemark.

Für welche Themen stehen die Sozialdemokraten europaweit noch?

Vogel Die soziale Frage bleibt. Zudem ist den Sozialdemokraten die Bewahrung des Friedens auf den Leib geschrieben. Wir leben in einer Phase, in der Spannungen mit militärischen Drohungen zunehmen - wie zwischen Iran und USA. Sie sind auch in dem sonderbaren Umgang der USA mit Nordkorea fast alltäglich. Wir müssen uns in Anknüpfung an Willy Brandt für Frieden engagieren, nicht für blinde Nachgiebigkeit, aber für Frieden. Wir müssen uns auch für einen anderen Umgang mit Russland einsetzen. Wir sollten nie vergessen, was wir den Russen mit unserem Angriffskrieg von 1941 bis 1945 angetan haben. 22 Millionen Menschen haben damals ihr Leben verloren. Die Grenzen der Nato sind nach Osten gerückt, es sind nicht die russischen Grenzen dem Westen näher gekommen. Wir müssen das Gespräch mit Moskau wieder substanzieller führen.

Was muss die SPD in Deutschland in den Vordergrund stellen, um wieder auf die Füße zu kommen?

Vogel Erhard Eppler und ich haben vor etwa einem halben Jahr dem Parteivorstand ein Papier zur Erneuerung der Partei vorgelegt. Darin haben wir drei große Aufgaben benannt. Erstens: Der Übergang ins Anthropozän – das ist eine Bezeichnung dafür, dass die Welt sich mehr und mehr der Selbstzerstörung nähert. Die Klimafrage ist ein wesentlicher Teil davon. Also: Kampf gegen die Selbstzerstörung der Menschheit. Zweitens: Die Kluft zwischen den oberen und den unteren Einkommen darf nicht noch größer werden. Gleiches gilt für die Vermögen. Drittens: Der Staat muss endlich wieder so stark werden, dass er auch globale Unternehmen wie Facebook und Google unter Kontrolle bekommt. Diese Unternehmen dürfen nicht mächtiger sein als die Staaten. Zur Umsetzung dieser Punkte brauchen wir vor allem die Europäische Union. Mir ist es rätselhaft, wie Menschen sagen können, sie wollten raus aus der EU. Damit verlören sie ja jedes Mitsprachegewicht auf der Weltebene.

(qua)
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