Hans-Dietrich Genscher † Der deutsche Weltdiplomat

Düsseldorf · Mit dem Tod Hans-Dietrich Genschers verliert Deutschland seinen ewigen Außenminister. Der FDP-Politiker prägte über zwei Jahrzehnte die Außenpolitik und gilt als Wegbereiter der Wiedervereinigung. Im Alter von 89 Jahren starb Genscher an Herz-Kreislauf-Versagen. Der Publizist und frühere Chefredakteur der Rheinischen Post, Herbert Kremp, hat Genscher viele Jahre begleitet. Ein Nachruf.

Hans-Dietrich Genscher – Stationen seiner Karriere
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Foto: dpa, mbk fpt tba

Als Hans-Dietrich Genscher im Mai 1992 zurücktrat, schrieb Henry Kissinger in einer schillernden Laudatio, der deutsche Minister erinnere ihn an einen Diplomaten auf dem Wiener Kongress, der den Tod eines Kollegen mit der Bemerkung registriert haben soll: "Ich frage mich, was seine Motive dafür gewesen sein könnten." Eine bessere Parabel ließe sich kaum finden. Genscher war Außenpolitiker sans frontière: Der Hintergedanke bestimmt das Sein. Die letzte Phase seines Lebens war von Bedrückung gekennzeichnet. Für ein krankes Herz war es schwer, den Zustand der eigenen Partei zu ertragen. Genscher litt unsäglich unter dem Sturzflug der FDP seit der Bundestagswahl 2009. Öffentlich hielt er sich zurück, intern sagte er, was er für richtig hielt. Die Liberalen müssten vor allem "klaren Europa-Kurs" halten, schrieb er in Briefen, die keine oder nur eine der Höflichkeit genügende Antwort erhielten. Das Alter, sagte de Gaulle, ist ein Schiffbruch.

Das permanente Nachdenken über Gefahren und Chancen, über Personen und ihre Motive, Verflechtungen, Stärken und Schwächen, über Interessen, Gefälle und Abgründe, das sich in die Stirn des Politikers eingefaltet hatte, kennzeichnete nicht den Siegertyp, sondern den Sorgenvollen, den stets um sich Blickenden - ich dachte oft: den Ängstlichen. Die äußere Selbstsicherheit des Staatsmannes trog, und der Wortwind bewegte den Schleier vor Genschers Motiven. So hielt er es im Gespräch, im Amt, in den Verhandlungen; auf den 700 Dienstreisen seiner Karriere, die ihn kilometermäßig ein paar Mal zum Mond und zurück beförderten; in Tausenden von Medienauftritten, wo ein Mix aus Gesagtem, Nichtgesagtem und Nichtssagendem sich der Deutung preisgab. Er habe, schreibt Kissinger, "seine Ziele um so viele Ecken herum angesteuert, dass seine blendende Geschicklichkeit manchmal die hohen Zwecke in den Schatten stellte, denen sie dienen sollten".

Seine Intelligenz war "furchterregend"

Das Labyrinth der Politik besteht aus Winkelzügen. Ins Freie zu gelangen, ist Sache der Intelligenz und des Gedächtnisses - des "Merkens" kleinster Details am Wege, des Halls der Tritte, der Richtung der Luftströme. Über diese Begabung verfügte Genscher in überreichem Maße. Gerd Bölling, Leiter des Presse- und Informationsamtes zu Helmut Schmidts Kanzlerzeit, nannte seine Intelligenz "furchterregend", und tatsächlich gab es unter all den Ministern keinen, der sich so leicht Namen, Eigenschaften, Andeutungen von Menschen einprägen konnte, hatten sie nur irgendeinen Belang oder würden womöglich belangvoll werden.

Daraus bezog Genscher drei Stärken: Ein reißfestes Beziehungsnetz, Überredungskunst und ein sonares System - die Technik des Navigierens. Genscher hat diese Kunst entwickelt und trainiert, weil sein Zeitgefühl unmäßige Bedrohungen registrierte. Er gehörte zur System-Generation - in der Weimarer Zeit geboren, im Nationalsozialismus aufgewachsen, zu früh im Krieg, danach im sowjetisch besetzten Halle, von schwerer Tuberkulose zeitweilig in die Quarantäne verbannt. Er sieht die bürgerliche Epoche untergehen, der er sich zugehörig fühlt und an die ihn mehr bindet als die Reminiszenz der eigenen Herkunft. Unerlässlich, unaufgebbar erscheint dem jungen Mann jedoch ihre Substanz: Freiheit und Freisinn. Wer so von Verlust und Hoffnung geprägt Anfang der fünfziger Jahre in der DDR die juristischen Examen ablegte, musste sich mit Ambivalenz wappnen. Der Eintritt in die LDPD, die "liberaldemokratische" Seitenlinienpartei, das Abstellgeleis des SED-Staates für Bürgerliche, Nationale, "Ehemalige", bot Schutz für den Augenblick, aber keine Aussicht.

1952 wechselte Genscher in den Westen. Hier stand der bürgerlichen Karriere als Anwalt in Bremen nichts im Wege und die politische bot sich an, weil man in der "Partei der Köpfe", wie sich die kleine FDP in den fünfziger Jahren nennen durfte, für Begabte Verwendung hatte. Zuerst Geschäftsführer der Fraktion, war er nach drei Jahren schon Bundesgeschäftsführer der Partei. Dem Bundestag gehörte er 33 Jahre an, heimisch war er im lockeren nordrhein-westfälischen Jungtürken-Zirkel um Walter Scheel, Wolfgang Döring, Willi Weyer, Hans Wolfgang Rubin, die in Düsseldorf erstmals gegen die CDU frondierten und 1956 Ministerpräsident Arnold stürzten. Die Koalition mit der SPD nannte sich noch nicht "sozial-liberal", war aber Vorgeschmack auf die Brandt-Scheel-Regierung 1969, in der Genschers 23-jährige Ministerzeit beginnen sollte.

Die Liberalen beliebten auf einmal zu pendeln. Antrieb war die Unruhe der lebensängstlichen Partei, ihre Zeitgeistgestimmtheit, der Doppelsinn liberaler Überzeugungen. Genscher, davon seltsam berührt, aber vom Elixier aller Machtbeteiligungen überzeugt, wurde stellvertretender Parteivorsitzender just auf dem Freiburger Parteitag 1968, als der linksliberale Programmatiker Karl Hermann Flach vom alten nationalliberalen Ufer abstieß, um den "historischen Kompromiss" mit der Sozialdemokratie zu suchen. Für Genscher lagen die Beschlüsse, die den Spaltkeil in die Partei trieben, "im Zug der Zeit", wie er später sagte. "Es waren ja Teile des Bürgertums, die in den unruhigen Jahren neue Positionen suchten, und denen wollten wir etwas bieten".

Right or wrong, my party. Ideologisch blieb Genscher "unauffällig", anämisch, farblos. Der Bundesinnenminister redete von Zukunftsthemen, Umweltpolitik, inneren Reformen, Ostpolitik, benutzte aber die "rechte Hand", um das Bundeskriminalamt auszubauen und nach der Geiselkatastrophe bei den Münchener Olympischen Spielen von 1972 die GSG—9 als "militärische Truppe" im Bundesgrenzschutz zu etablieren. Das gefiel manchen "fortschrittlichen" Sozialliberalen ganz und gar nicht, wie dieser Minister, nach allen Seiten witternd, dem Gesinnungstrubel der Brandt-Zeit die Reverenz verweigerte. Außer einem "heillosen Pragmatismus" ließ sich jedoch nichts Schuldhaftes an ihm feststellen. Die Stimmung gegen ihn gewann erst Momentum, als Willy Brandt in der Affäre des Kanzleramts-Spions Guillaume von der Säule fiel. Genschers Ämter, Bundeskriminalamt und Bundesverfassungschutzamt, waren problematisch involviert. Musste Brandt dem Vorwurf der Erpressbarkeit nicht deshalb weichen, weil BKA-Beamte die Damenschuhe auf den Perrons seines Wahlkampfzuges gezählt und darüber ausgesagt hatten?

Genscher war damals sehr, sehr still, was er als "Takt" verstanden wissen wollte. Dazu kam das Glück der Termine. Am 6. Mai 1974 trat Brandt zurück, am 16. Mai wurde Helmut Schmidt zum Kanzler gewählt, am 15. Mai übernahm Walter Scheel das Amt des Bundespräsidenten, am 17. Mai folgte Genschers Einzug ins Auswärtige Amt. Zwischen ihm und Schmidt bestanden "Beziehungen" - viel mehr nicht. Die "Konsolidierungspolitik", die Ordnung der unter Brandt aus den Fugen geratenen Finanzen, die Entspannung, die man jetzt "realistisch" nannte, bildeten eine Eiserne Ration an Gemeinsamkeiten, was in der Politik so etwas ist, wie der Wurstvorrat für den Hund. Der neue Außenminister hielt auf Kontinuität, schrieb seinen Freunden "Kurs halten" auf die Postkarten und hängte sich das Porträt Gustav Stresemanns, des Weimarer nationalliberalen Außenministers, dem es um Ausgleich mit Frankreich und deutsche Großmachtstellung ging, hinter den Schreibtisch.

Der Chefdiplomat spreizte die Flügel, die ihn nun 18 Jahre tragen sollten, lernte Konferenz-Englisch, waltete oberhirtlich über sein Ministerium und warf als Globalunternehmer ein dichtes Beziehungsnetz über die Welt des Kalten Krieges. Er tat es für das Land, für die FDP und für sich, und diese drei marschierten in einer Reihe. Wieder lenkten Vorsicht und Umsicht die Schritte. Kern aller Bemühungen war die Schaffung kooperativer Strukturen, Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die Schlussakte von Helsinki 1975, darin der "Korb 3" mit der Regelung humanitärer Fragen und dem Menschenrechtsschutz, pries er als Preziose. Der reisende Minister entwickelte sein Haupttalent der Weltokkupation durch vertrauensbildende Rhetorik, jenen Genscherismus, den der britische Historiker Garton Ash mit dem Satz beschrieb: "Man möchte freundschaftliche Beziehungen mit dem Himmel, vertiefte Partnerschaft auf Erden, aber auch fruchtbare Zusammenarbeit mit der Hölle."

Höchsten Ränge der Beliebtheit

Zwischen 1974 und 1982 lagen lange Jahre, brisant, bleiern, terroristisch, rezessiv. Während die FDP unter dem neuen Vorsitzenden Genscher reüssierte, er selbst zugleich in die höchsten Ränge der Beliebtheit aufstieg, neigte sich die SPD zu stetigem Sinkflug, irritiert von einer ungebärdigen Linken, die Verteilung und Veränderung, eine neue Politik und einen anderen Kanzler wollte. Die Ohren des Ministers standen auf Segelstellung. Mit gedämpfter Stimme verbreitete er, er habe "mal wieder" Helmut Kohl getroffen, um scheinbar ohne Zusammenhang anzufügen, die FDP sei "voll manöverierfähig", was nicht falsch verstanden werden dürfe, aber Wirtschaft und Finanzen bereiteten doch immer größere Sorgen. Plötzlich stirnglättendes Lachen, wenn jemand den älteren Moltke erwähnte, der von "Aushilfen" sprach, wenn die "Strategie" des Anfangs verschlissen wäre. Das klang vieldeutig. Genscher flüsternd: "Reden wir ein andermal darüber."

Die Koalition war zuschanden und die Aushilfe Kohl stand bereit, als Genscher, der Verlässliche, am 17. September 1982 "sprang", die FDP-Minister mit ihm Schmidts Kabinett verließen. Unter den Liberalen erzeugte die Wende Wirbel, auf dem Parteitag der Tränen in Berlin liefen ein Teil der Abgeordneten und Delegierten, bei der Wahl im März 1983 auch ein Teil des Parteivolks davon. Später, viel später, bei der Aufzählung der schlimmen Stunden in seinem Leben, ordnete Genscher die "emotionale Aufwallung der sozial-liberal Verliebten" als ein "aufregendes" Erlebnis ein: "Nervenzehrend, ja, aber nicht so schlimm wie die pessimistischen Diagnosen meiner Ärzte und nicht so überraschend wie das Ende der Sowjetunion 1991."

Die Wende war kühn und riskant, aber Genscher glaubte bei aller milden Ironie einmal mehr, der Wechsel habe das Land, die FDP, ihn und obendrein auch noch das westliche Bündnis, das am Faden der Nachrüstung hing, gerettet. Die SPD sei zu keinen großen Entscheidungen mehr fähig gewesen, sie wollte eine "pazifistische Republik" und das konnte man sich nicht leisten. Unerschütterlich fest im Amt, fühlte sich der Minister ganz oben. Das neue Duo genoss den Honeymoon. Kohl kümmerte sich um die Innenpolitik, wie frische Kanzler das regelhaft tun, Genscher herrschte über das Äußere, am Anfang mehr als später. Die Ostpolitik sollte nicht revidiert, sondern "kontinuierlich" fortgesetzt werden, das war die Grundbedingung. Und sie wurde eingehalten, bis die Mauer fiel, und Helmut Kohl als Bürger-Bismarck den vorbeirauschenden Mantel der Geschichte ergriff und ihn nicht mehr losließ.

Es ist keine Frage, dass Netzwerker Genscher in engem Verein mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse, dem Amerikaner Jim Baker, dem Franzosen Roland Dumas und all den anderen Freunden auf den Kontinenten der Vereinigung Deutschlands gegen Mitterrand und Thatcher zum Erfolg verholfen hat. Er kannte das Schwarzbrot aller Verhandlungen, umging die Stolpersteine der Zwei-plus-Vier-Diplomatie und bestätigte damit das Format der Bonner Politik, das über Jahre mehr Vertrauen angehäuft hat, als die schick gepäppelte Republik-Fortsetzung verlieren kann. Die Kanzlerhand dominierte 1989 bis 1991, so gab es die Ordnung vor. Nach der triumphalen Entlassung der DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft merkte man Genscher nicht mehr an, dass seine Konzeption des kommoden Status quo: saturierte Sowjetunion, integriertes Westeuropa und organisierten West-Ost-Kooperation mit durchlässigen, "menschlichen" Grenzen wie im Boden verschwunden war. Als das Beben plötzlich den gesamten politischen Osten erschütterte, war die Verwunderung groß. "So war das nicht zu erwarten", sagte Genscher Mitte November 1989, nach dem Mauerfall.

Die Nachkriegsordnung akzeptieren

Deutschland war vereinigt und als Ganzes in den Westen, sogar in die Nato übergegangen, ein vor kurzem noch unkorrekter Traum und ein gutes Beispiel dafür, wie die Geschichte einer politischen Klasse davonzulaufen vermag. Für Genscher, dessen Blick wie hypnotisiert auf die Ost-West-Achse geheftet blieb, waren der Golfkrieg und die Auflösung Jugoslawiens Ereignisse, bei denen sich seine Friedens-, Reise- und Scheckheftdiplomatie als unwirksame Instrumente erwiesen. Er hatte, das spürte er an vielen Anzeichen, seine Mission erfüllt. Als die Mauer verschwand, war er länger als alle seine Vorgänger im Auswärtigen Amt und nach den ärztlichen Diagnosen in "chronischem Erschöpfungszustand". Drei Herzinfarkte hatte sein unbändiger Wille bezwungen, und die Beziehung zu Helmut Kohl waren in den Bereich der Untertemperatur gerutscht. Und so tat er, was ein souveräner Mensch macht, wenn Haften am Platz den Nachruhm beschweren könnte: Im Januar 1992, nach einer rauschenden Presseballnacht in Berlin, eröffnete er Helmut Kohl beim Frühstück, dass die Dienstreise beendet sei. "Der hat das", berichtete Genscher danach, "ohne Regung hingenommen."

Die Nachkriegsordnung akzeptieren, um sie zu überwinden — an diesen Gedanken Stresemanns hielt sich Hans-Dietrich Genscher, obwohl in dem deutschen Fall, mit dem er zu tun hatte, die große Nachkriegsordnungmacht Sowjetunion in die Knie gegangen war. Über den Unterschied wird die Geschichte richten. Genscher waren noch Jahre geschenkt, in denen das Urteil darüber in der Schwebe blieb und er den Ruhm seiner Zeit mit vollen Zügen genoss. Es gibt nichts, worüber man sich ständig den Kopf zerbrechen müsste. Es genügt, Hans-Dietrich Genscher einen deutschen Staatsmann zu nennen.

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