NRW-Ministerpräsidentin nimmt Rolle der Basis ein Hannelore Kraft treibt Preis für große Koalition hoch

Berlin · Bei der Sondierung mit der Union nimmt die Ministerpräsidentin die Rolle der SPD-Basis ein – und macht sich unbeliebt.

Bei der Sondierung mit der Union nimmt die Ministerpräsidentin die Rolle der SPD-Basis ein — und macht sich unbeliebt.

Seit fast fünf Stunden sitzen die Spitzenpolitiker von Union und SPD zusammen, als es zwischen NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt zum Schlagabtausch kommt. Es geht um die Familienpolitik: Ehegattensplitting, Elterngeld und die Finanzierung öffentlicher Betreuung.

Ex-SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück führt aus, dass das Ehegattensplitting "verteilungs- und arbeitsmarktpolitisch ein Skandal" sei. Kraft fügt hinzu, man müsse die Familienpolitik volkswirtschaftlich betrachten. Das Ehegattensplitting — das seine steuersenkende Wirkung umso stärker entfaltet, je größer der Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau ist — halte Frauen vom Job fern. Diese Aussage ist eine Vorlage für die CSU: Dobrindt stichelt, für die SPD sei Familienpolitik vor allem Gesellschaftspolitik. Kraft geht in die Verteidigung. Er habe sie bewusst missverstanden, wirft sie Dobrindt vor. Der wiederum entgegnet ungerührt, er habe alles mitgeschrieben, er könne ihr dies gerne noch einmal vorlesen.

Das bringt die Sozialdemokratin richtig in Rage. Das lasse sie sich nicht bieten, wettert Hannelore Kraft. Bundeskanzlerin Angela Merkel versucht moderierend einzugreifen und fragt, warum die Debatte mit so viel Schärfe geführt werde. Dobrindt wiederum bringt die Lage endgültig zum Eskalieren, indem er meint, Kraft könne es nicht vertragen, wenn man ihr den Spiegel vorhalte. Dann gibt ein Wort das andere. Am Ende ruft ein Unions-Mann: "Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie ja gehen." So könne man nicht verhandeln, empört sich die SPD-Vizechefin. Es ist der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der das Wortgefecht schließlich beendet, indem er um eine Unterbrechung bittet. Die Unterhändler von Union und SPD trennen sich und beruhigen ihre Gemüter bei Saft, Wasser und Tee.

Nach der Sitzungsunterbrechung kommen Kanzleramtschef Ronald Pofalla, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (beide CDU), mit dem Kraft ebenfalls ein Wortgefecht hatte, und Dobrindt zehn Minuten später. Dann ist Ruhe. Vonseiten der SPD wird gemutmaßt, dass Pofalla die beiden Provokateure zur Mäßigung gemahnt hat. Auffällig an der Szene sei gewesen, beschreiben Teilnehmer hinterher, dass Gabriel die Lage zwar entschärft habe, Kraft inhaltlich aber nicht zur Seite gesprungen sei. Ein Unionsmann meint: "Kraft kann austeilen, aber nicht einstecken." Von SPD-Seite heißt es hingegen, Kraft lege auf einen sachlichen und professionellen Umgang Wert. Das gehöre zu ernsthaften Gesprächen dazu. Dobrindts Äußerungen seien "neben der Spur" gewesen.

Abgesehen von den Rangeleien zwischen Dobrindt und Kraft wird die Atmosphäre von Teilnehmern dennoch als "konstruktiv" und "konzentriert" geschildert. Wurde beim ersten Gespräch zwischen Union und SPD noch über die großen Leitlinien gesprochen, wurde nun ernsthaft und konkret verhandelt. Es ging um Eingliederungshilfen, Werkverträge, Bund-Länder-Finanzen, EEG-Reform und die Vorratsdatenspeicherung. Vorgezogene Koalitionsverhandlungen. Außer Kraft seien alle am Tisch auf ein schwarz-rotes Bündnis eingestellt, meint ein Unionsmann. Nur Kraft sträubt sich, packt Maximalforderungen auf den Tisch, vor allem zugunsten der Länder. Aus Krafts Perspektive ist das sinnvoll. Sie hat sich vom Wahlabend an der Rolle verschrieben, der Stimme der SPD-Basis Gewicht zu verleihen. Die "einfachen" Parteianhänger lehnen Schwarz-Rot aber ab, erst recht in NRW. Kraft sieht sich als Anwältin dieser Skeptiker. Sollte es trotz ihres Widerstands eine große Koalition geben, wird sie immer noch für sich in Anspruch nehmen können, die Preise in die Höhe getrieben zu haben. Allerdings ist auch die Gefahr groß, dass sie als einsame Nörglerin in der Ecke steht, wenn die Gabriel-SPD in einen schwarz-roten Koalitionsvertrag reihenweise sozialdemokratische Positionen hineinverhandelt und das Bündnis gut startet.

Zudem gilt die geplante Basis-Beteiligung als ernst zu nehmende Hürde. Am Sonntag soll ein kleiner SPD-Parteitag über Koalitionsverhandlungen entscheiden. Ein Veto wäre fatal für die SPD-Führung. Als ein Unions-Verhandler am Rande der Sitzung auf einen SPD-Kollegen zugeht und nachfragt, warum die SPD-Seite so gereizt sei, entgegnet der nur lapidar. "Wir haben doch unsere Basis im Nacken."

(brö /qua)
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