Kindheit am Zaun Grenzspaziergänge und kleiner Grenzverkehr

Lübeck (rpo). Jenseits des Zaunes, an dem ich groß geworden bin, hat für mich in meiner Kindheit immer ein unbekanntes, fast gefährliches scheinendes Land gelegen. Auch wenn ich mir das Ost- und heutige Einheits-Sandmänchen allabendlich seinen DDR-Sand in die Augen streute, hatte das Land jenseits des Zaunes immer etwas Bedrohliches. Rüber gefahren sind wir nie, denn Familie hatten wir im Osten nicht, aber den eisernen Vorhang hatte ich in Lübeck immer vor Augen. Erst als aus den Grenzspaziergängen mit den Eltern der kleine Grenzverkehr des Jugendlichen wurde, lernte ich das gefährliche Land jenseits der Grenze kennen.

Doch zu Zeiten des DDR-Sandmännchen, von Pittiplatsch und Schnatterinchen war das anders. Was war das immer aufregend, wenn wir im Sommer anstatt nach Travemünde einmal auf die andere Seite der Trave an den Strand fuhren, auf den Priwall. Der Strand dort war immer schon wilder und endete in meiner Kindheit zwangsläufig an dem nördlichsten Zaun des eisernen Vorhangs. Ich wollte immer möglichst dicht an dem Zaun am Sand liegen, je dichter desto spannender war der Strandtag. Da stand in großen Lettern "Grenze" auf den Schildern und Hinweise auf Minen jenseits des Zauns gab es auch. Meine Schwester und ich warfen dann immer wieder Steine über den Zaun, in das unbekannte, gefährliche Land, in der Hoffnung, dass Mal eine Mine hochgeht - hat aber nie geklappt.

Wenn mein Vater erzählte, dass die Menschen auf der anderen Seite des Zauns gefangen gehalten werden, wunderte ich mich immer, dass die nicht das kurze Stück auf der Ostsee um den Zaun herum geschwommen sind. Am Abend, bei Einbruch der Dämmerung, sah auch der kleinste Junge warum nicht. Unaufhörlich drehten die riesigen Scheinwerfer auf den NVA-Wachtürmen ihre Leuchtkegel über das Wasser und den Strand. Manchmal haben die Grenzsoldaten mit ihren Lichtkanonen sogar über den Zaun hinweg auf unsere Seite geleuchtet.

Älter geworden erreichte ich bei meinen Streifzügen auf dem Fahrrad in Lübeck-Eichholz immer das "Ende der Welt". So hieß die Kneipe am Ende der Straße, die dort wiederum mitten in einem Wohngebiet am Grenzzaun endete. Und auch dort stand der DDR-Grenzpfahl, nur wenige Meter weiter der gefährliche Zaun. Eine westdeutsche Tafel erklärte die Gefahrenzonen des eisernen Vorhangs in einem Querschnitt und ich konnte erahnen, an welchem der diversen Zaunreihen, die Minen, die Selbstschussanlagen und die Kettenhunde lagen. Im nahen Wachturm sah ich die pilzbehelmten Soldaten mit dem Fernglas im Anschlag. Das war als Kind schon abenteuerlich.

Nicht weit entfernt im Wald von Lübeck-Schlutup endeten die meisten Wege ebenfalls am Zaun oder an einem Grenzpfahl, der von westlichen Gefahrenhinweisen begleitet wurde. Verrostete Eisbahnschienen der alten West-Ost-Trassen und auch Straßen verliefen sich im Unterholz. Auch weiter im Südosten der Stadt endete Lübeck am eisernen Vorhang, der bei einer Schifffahrt von der Hansestadt über die Wakenitz nach Ratzeburg fast bedrohlich nahe rückte, aber gleichzeitig ein fast unberührtes Naturidyll war.

Abenteuer im kleinen Grenzverkehr

Wer damals unmittelbar im westlichen Grenzgebiet wohnte, konnte im so genannten kleinen Grenzverkehr bis zu 25 Mal im Vierteljahr in Lübeck-Schlutup den Zaun überwinden. Mit 16 holte ich mir sofort einen Reisepass und beantragte von da an regelmäßig ein solch vereinfachtes DDR-Visum, auch ohne familiäre Bindungen nach Drüben. Zunächst ging es mit der Kirchengruppe zu Gemeindebesuchen nach Mecklenburg. Was war das immer für ein Nervenkitzel, vom Spiegel unter dem Auto, über den ausgebauten Rücksitz bis zu den Schaschlick-Spießen im Kuchenpaket und den beschlagnahmten Kirchenkalendern. Die Begegnung mit den Menschen in den ländlichen Gemeinden war aber meist bedrückend, hatte etwas konspiratives, die Stasi lauerte irgendwie hinter jeder Ecke.

Mit dem ersten Auto, dem ollen Mercedes eines Freundes, waren die 25 Mark Zwangsumtausch immer mehr Eintritt für ein Abenteuer, als ein Zwang. In der Limousine kamen wir uns schon recht cool vor, wenn wir über holprige Landstraßen in die grauen Städte Wismar und Schwerin fuhren und die eingeschmuggelte Musikkassette lief. Der Zwangsumtausch wurde damals in Zeichenstifte, Bücher und zähe Steaks im besten Hotel der Stadt investiert. Noch heute erinnern mich zwei Wörterbücher der marxistisch-leninistischen Philosophie und Soziologie an diese Zeit, Bücher die von einem Zwangssystem zeugen.

Zum Ende meines Studiums kam dann auch der Anfang vom Ende der DDR. Den Abend des 9. November 1989 verbrachte ich am Grenzübergang Lübeck-Schlutup. Und das war eigentlich das abenteuerlichste Erlebnis an dem Zaun, an dem ich groß geworden bin. In diesen Momenten habe ich Geschichte erlebt, die Geschichte vom vom glücksverheißenden Ende des Zauns an dem ich groß geworden bin. Ob das Glück am 3. Oktober 1990 mit der Einheit seinen Höhepunkt erreichte, vermag ich heute nicht zu sagen, aber die ersten Stunden am offenem Zaun waren Stunden des Glücks auf beiden Seiten.

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