Wahlrecht Bundestag - kleiner durch Graben

Berlin · Keiner will Sitze verlieren. Deshalb scheitert jeder Versuch, den Bundestag zu verkleinern. Dabei gäbe es eine naheliegende Lösung: die echte Trennung von Erst- und Zweitstimme.

 Der Plenarsaal des Bundestages bei einer Debatte (Archivfoto).

Der Plenarsaal des Bundestages bei einer Debatte (Archivfoto).

Foto: dpa/Michael Kappeler

Das Problem der Deutschen mit ihrem aufgeblähten Bundestag hat damit zu tun, dass sie es besser machen wollten als die anderen. Die Briten wählen im Mutterland der Demokratie ihr Parlament allein über ihre Wahlkreiskandidaten. Ins Unterhaus kommt jeder, der in seiner Heimatregion die meisten Stimmen bekommen hat. Sonst niemand. Dadurch können im Extremfall bis knapp zur Hälfte der Wählerwünsche unter den Tisch fallen. Das ist der Nachteil beim Mehrheitswahlrecht. Das andere Extrem ist das Verhältniswahlrecht, das den nationalen Wählerwillen bei der Stärke der Parteien abbildet, aber die Bindung an die Wähler vor Ort nicht hinbekommt. Die Deutschen wollten ein optimales Mischsystem. Doch das schwächelt massiv.

So lange es zwei große und wenige kleine Parteien gab, fiel die Tücke des Systems nicht weiter auf. Die mit der Erststimme direkt gewählten Abgeordneten gingen problemlos in der Gesamtzahl der Mandate auf, die der Partei nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen zustand. Doch was passiert, wenn eine Partei knapp 30 Prozent der Zweitstimmen bekommt und sie deshalb 170 von 598 Sitzen im Parlament beanspruchen kann, sie über die Erststimme aber schon über gut 230 direkt gewählte Abgeordnete verfügt? Dann sagt das aktuelle Wahlrecht, dass die anderen Parteien so lange auch mehr Sitze kriegen müssen, bis das Kräfteverhältnis wieder stimmt. Das Ergebnis sind dann 709 statt der vorgesehenen 598 Abgeordneten.

Dabei könnte die Sache eng an den Vorgaben des Bundeswahlgesetzes geregelt werden. In dessen erstem Paragrafen steht, dass der Bundestag, vorbehaltlich von Abweichungen, aus 598 Abgeordneten besteht, von denen „299 nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die übrigen nach Landeswahlvorschlägen (Landeslisten) gewählt“ werden. Einfache Lösung: In den 299 Direktwahlkreisen gewinnt der Kandidat mit den jeweils meisten Erststimmen. Und die übrigen 299 Sitze werden nach dem Anteil der auf die Parteien entfallenen Zweitstimmen vergeben. Weil zwischen den beiden Auszählungen ein klarer Graben verläuft, heißt das Grabenwahlrecht. Es garantiert, dass der Bundestag nie mehr als 598 Abgeordnete hat und keine Zweitstimme unter den Tisch fällt.

Doch als genau das jetzt eine Gruppe von knapp zwei Dutzend Unionsabgeordneten vorschlug, war die Opposition sofort auf dem Baum. Die FDP witterte gar „Elemente eines legalen Putsches“. Denn wären schon nach der letzten Bundestagswahl die Stimmen nach danach ausgezählt worden, säßen 46 FDP-Abgeordnete weniger darin, auch Linke, Grüne, SPD und vor allem die AfD verlören kräftig an Mandaten. Nur die Union hätte 88 Sitze mehr.

Die Opposition will deshalb woanders streichen: Nach einem Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen sollen künftig nur noch 250 Wahlkreise existieren, jeder einzelne also um ein Viertel größer werden. Das führt nicht nur zu mehr Bürgerferne, es ist auch kein Garant für einen kleineren Bundestag. Denn so lange alle „überzähligen“ Direktmandate kreuz und quer über die Länder, die Parteien und die Wahlbeteiligung ausgeglichen werden, bewirken noch geringere Prozentzahlen für die früheren Volksparteien, dass es trotzdem wieder über 700 Abgeordnete werden können. Die Bürgerferne mag den drei Oppositionsparteien derzeit egal sein, da sie ohnehin kaum Chancen haben, Direktwahlkreise zu gewinnen. Vielleicht ändert sich das, wenn die Grünen in immer mehr Regionen an SPD und CDU vorbei ziehen.

So hat denn die festgefahrene Debatte um einen verkleinerten Bundestag sehr viel mit aktuellen möglichen Mandatsgewinnen zu tun. Mehr mit eigenem Einfluss und Machtaussichten als mit einem für den Wähler verständlichen Wahlgesetz. Für die Umwandlung der Erststimmen in Mandate braucht das Wahlgesetz 27 Wörter, für die Umrechnung der Zweitstimmen sind es 728. Verstehen kann die Feinheiten kaum noch einer.

Doch das leicht verständliche  Grabenwahlrecht wird nicht kommen. Schon der vom Verfassungsgericht inspirierte Kompromissvorschlag von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die ersten 15 Überhangmandate nicht mehr auszugleichen, fiel bei der Opposition durch. Sie könnte sich durchsetzen, wenn die SPD die Koalition verlässt und mit ihr stimmt. Dann gäbe es eine Mehrheit zu Lasten der Union. Die Wahrscheinlichkeit ist gering.

Zeit also für etwas radikal anderes? Zum Beispiel für eine französische Lösung? Mit einem ersten Wahlgang, in dem alle Abgeordneten gewählt sind, die mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommen, und mit einem zweiten, in dem sich dann der in den Wähleraugen stärkste Kandidat durchsetzt? Sowohl dafür wie das Grabenwahlrecht bräuchte es einen großen Konsens in Parlament und Gesellschaft. Davon war Deutschland selten weiter entfernt als heute.

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