Gespräche von SPD und Union Die ungeliebte Minderheitsregierung

Berlin · Das Misstrauen gegen wechselnde Mehrheiten sitzt tief bei den Deutschen. Unrealistisch sei das, heißt es oft zur Begründung. Dabei zeigt gerade ein realistischer Blick in die Parlamente: Über neue Modelle wird zu reden sein.

Gespräche über große Koalition: Die ungeliebte Minderheitsregierung
Foto: dpa, nie fdt

Heißt eine Minderheitsregierung eigentlich Minderheitsregierung, weil nur eine Minderheit sie wünscht? Natürlich nicht, aber zwei Wochen nach dem großen Knall bei den Jamaika-Sondierungen könnte man den Eindruck gewinnen. Zwar sind alle direkt oder indirekt am Prozess beteiligten Gruppen - von den Parteien über die Wissenschaftler bis zum Wahlvolk - gespalten, aber die Skepsis überwiegt.

Zwei Grüne fassten dieses Unbehagen vergangene Woche in anregende Bilder. Ex-Parteichef Jürgen Trittin ließ wissen, eine grüne Beteiligung an einer Minderheitsregierung wäre nur "das Laxativ für die Verstopfung der SPD, damit sie in die große Koalition segelt und trotzdem so tun kann, als ob sie Opposition wäre". Ex-Außenminister Joschka Fischer nannte eine Minderheitsregierung schlicht "Schnickschnack" und fügte hinzu: "Deutschland kann man nicht wie in einem Probierstübchen regieren." Von der Kanzlerin ist ohnehin bekannt, dass sie eine Minderheitsregierung ablehnt; sie weiß sich darin einig mit ihrer Parteispitze.

Minderheitsregierung bei Wählern unbeliebt

Aber es ist nun einmal so: Eine unionsgeführte Minderheitsregierung ist eine von drei verbliebenen realistischen Möglichkeiten - neben einer erneuten großen Koalition und einer Neuwahl. Der SPD-Parteivorstand hat sich am Montag für ergebnisoffene Gespräche mit der Union ausgesprochen. Dass es auch zur Koalition kommt, ist angesichts des Rumorens in der Sozialdemokratie längst nicht ausgemacht - aus NRW wird etwa deutliche Abneigung signalisiert. Die Wähler halten eine Minderheitsregierung ohnehin für die schlechteste der drei Möglichkeiten.

Auch das Grundgesetz mag Minderheitsregierungen nicht besonders. Zu sagen, es lehne sie klar ab, ginge trotzdem zu weit. Artikel 63 führt über den Kanzler lapidar aus: "Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt." Wie keine andere Norm, schrieb der Anfang 2017 verstorbene Staatsrechtler und Altbundespräsident Roman Herzog in seinem Grundgesetzkommentar, "macht Artikel 63 deutlich, dass der Parlamentarische Rat fast mit allen Mitteln stabile Regierungsmehrheiten sicherstellen wollte". Herzog spricht sogar vom "verfassungs-,ethischen' Schaden langjährigen Regierens gegen die parlamentarische Mehrheit".

Weimarer Republik als Schreckgespenst

Dagegen stellt der Politikwissenschaftler Karlheinz Niclauß in seinem Standardwerk über den "Weg zum Grundgesetz" fest, die Mütter und Väter der Verfassung, also jener Parlamentarische Rat, hätten das Ziel gehabt, "Parlamentsauflösungen zu erschweren". Auflösungen, nicht Minderheitsregierungen. Und so ist es, wenn auch auf kompliziertem Wege, möglich, einen "Minderheitskanzler" ins Amt zu bringen, der im Bundestag nur die einfache Mehrheit (nicht die Mehrheit der Mitglieder, die "Kanzlermehrheit") erreicht: wenn alle Versuche gescheitert sind, einen Kandidaten mit Kanzlermehrheit zu wählen. Wird ein Minderheitskanzler gewählt, kann der Bundespräsident ihn ernennen oder den Bundestag auflösen - was hieße: Neuwahl.

Die Gegner nehmen die Minderheitsregierung in die Zange: von hinten (also historisch) und von vorn (mit Blick in die Zukunft). "Historisch" meint das Trauma der Weimarer Republik, das zur Negativfolie des Grundgesetzes wurde. Das Schreckbild war die Weimarer Kombination parteipolitischer Zersplitterung und des schließlich siegreichen Willens, gegen das Parlament zu regieren. Die Präsidialkabinette, deren Reichskanzler sich ab 1930 auf vom Präsidenten gegengezeichnete Notverordnungen stützten, aber nicht mehr auf eine eigene Mehrheit im Reichstag, höhlten den Parlamentarismus ebenso aus wie Nazis und Kommunisten.

Das führte zu grotesken Ergebnissen wie im September 1932, als die Regierung unter Franz von Papen in ihrer ersten Vertrauensabstimmung mit 42 gegen 512 Stimmen unterging. Papen ließ den neugewählten Reichstag sofort auflösen - eine der schwärzesten Stunden des deutschen Parlamentarismus.

Auch stabile Regierungen können schlechte Politik machen

Wer mit der Zukunft argumentiert, tut das wie der Grüne Robert Habeck, der eine Minderheitsregierung zwar für "intellektuell spannend", angesichts der "Entscheidungsdichte und -härte" in der Bundespolitik aber für unrealistisch hält. Oder wie der Berliner Staatsrechtler Florian Meinel, der barsch von "romantischem Unfug" spricht.

Ob alle diese Gegenargumente am Ende ihrerseits realistisch sind, darf man bezweifeln. Stabilität ist nicht alles - auch stabile Regierungen können schlechte Politik machen. Volkes Wille ist wankelmütig. Der Entscheidungsdruck ist groß - aber das würde eben formelle Tolerierungsabsprachen nötig machen, mit einer Partei zu mehreren Themen oder mit mehreren Parteien zu einzelnen Themen. Auch eine Pflicht zum Regieren etwa für die SPD ist kaum zu begründen - woran soll sie sich bemessen: an der Größe der Partei, ihrer Tradition, ihrer programmatischen Breite? Einen Zwang zur Schnittmenge konnte es nicht bei Jamaika und kann es nicht bei Schwarz-Rot geben.

Im März 2012, als die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW nach 20 Monaten weitgehend stabiler Arbeit überraschend keine Mehrheit für ihren Haushalt erreichte und der Landtag sich auflöste, entfuhr dem damaligen CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann der Stoßseufzer: "Die ganze Zockerei ist jetzt am Ende." Laumann, für den der Begriff der Volkstümlichkeit erfunden worden sein könnte, gab damals wie heute sozusagen dem politischen Bauchgefühl der Deutschen Ausdruck.

Das Problem ist bloß: Mit Gefühlen lässt sich schlecht Politik machen. Im Bundestag sitzen sieben Parteien in sechs Fraktionen; zehn der 16 Landesparlamente haben fünf, vier sogar sechs Fraktionen oder Gruppen; in zwölf Parlamenten kommen noch Fraktionslose dazu. Mehrheiten zu finden, wird nicht einfacher. Über die Minderheitsregierung wird noch zu sprechen sein.

(fvo)
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