Generaldebatte im Bundestag Scholz überrascht mit einem Deutschland-Pakt
Berlin · Die politische Debatte ist um einen Begriff reicher. Zum Start in die zweite Hälfte der Wahlperiode schlägt der Kanzler im Bundestag einen „Deutschland-Pakt“ vor. Es geht um die beschleunigte Modernisierung des Landes. Aus der Union kommt Zustimmung – geknüpft an Bedingungen.
Abgeordnete und Beobachter reiben sich am Mittwochmorgen gleichermaßen verwundert die Augen: Ist der Redner da vorne am Pult wirklich Olaf Scholz? Abgesehen davon, dass der Kanzler aufgrund seines Jogging-Sturzes weiter eine Augenklappe trägt, wirkt er bei der Generaldebatte in der ersten Woche nach der Sommerpause deutlich aufgeräumter, energischer und angriffslustiger als sonst. Die Augenklappe habe magische Wirkung, witzelt ein SPD-Abgeordneter am Rande des Plenums.
In der Tat hält Scholz am Mittwochmorgen eine Rede, von der ein Ruck ausgehen soll. Nachdem er zu Beginn seiner Ausführungen die „Popanzen“ (angsterregende Übertreibungen) des Oppositionsführers Friedrich Merz (CDU) kritisiert, kommt er zum überraschenden Kern seiner Rede. Der SPD-Regierungschef schlägt Ländern, Kommunen und der demokratischen Opposition einen „Deutschland-Pakt“ zur raschen Modernisierung des Landes vor. „Wir brauchen eine nationale Kraftanstrengung. Also lassen Sie uns unsere Kräfte bündeln“, ruft der Kanzler ins Plenum. Der Pakt solle Deutschland schneller, moderner und sicherer machen. „Tempo statt Stillstand, Handeln statt Aussitzen, Kooperation statt Streiterei. Das ist das Gebot der Stunde!“ Und fährt fort: „Zu viel ist in den vergangenen Jahren auf die lange Bank geschoben worden.“ „Die Bürgerinnen und Bürger sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch“, betont er. „Nur gemeinsam werden wir den Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit abschütteln, der sich über Jahre, Jahrzehnte hinweg über unser Land gelegt hat.“
Scholz geißelt den Mehltau, der die Wirtschaft lähme. „Und er sorgt für Frust bei den Leuten im Land, die einfach wollen, dass Deutschland ordentlich funktioniert. Dass die Bahn pünktlich fährt. Dass unsere Infrastruktur - analog und digital - zur besten in Europa zählt. Dass einem die Ämter unter die Arme greifen und keine Schwierigkeiten machen.“ Dafür brauche es schnelle Verfahren und weniger Bürokratie sowie die Bereitschaft aller, an einem Strang zu ziehen, betont Scholz. Sein Angebot richte sich an die 16 Regierungschefs der Länder, an die Landräte und Landrätinnen und Bürgermeister in der ganzen Republik. Scholz wirbt aber ausdrücklich auch bei Merz, dem Vorsitzenden der größten Oppositionspartei, um Zusammenarbeit.
Merz sucht während der Rede des Kanzlers den Kontakt zu seinem Generalsekretär Carsten Linnemann. Die Union ist überrascht.
Als erster Redner hatte Merz zuvor die Politik der Ampel-Koalition und ihren geplanten Haushalt massiv kritisiert. „Nach all dem, was wir bisher dazu gehört und gelesen haben, wird auch der Bundeshaushalt für das Jahr 2024 dieser fundamentalen Herausforderung einer tatsächlichen Zeitenwende nicht gerecht.“ Merz bemängelt vor allem den Umgang mit der Bundeswehr. Vor allem für SPD und Grüne bleibe die Truppe auch mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine „ein ungeliebtes Kind“. Es sei richtig gewesen, dass die Bundesregierung sich verpflichtet habe, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato ab sofort zu erfüllen. Auch das Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro sei eine gute Entscheidung gewesen, die CDU und CSU mitgetragen hätten, betont Merz, der im Laufe seiner Rede allmählich in Fahrt kommt. Dennoch sei der große Verlierer des Haushalts für 2024 Verteidigungsminister Boris Pistorius, sagte Merz. Denn der Minister erhalte nicht die von ihm geforderten zehn Milliarden Euro zusätzlich für die Truppe. Merz weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einem Deutschland-Pakt-Angebot.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ist der erste Redner der Union nach dem Kanzler. Er geht auf das Angebot des Kanzlers zur Zusammenarbeit ein und erklärt grundsätzlich die Bereitschaft der Union hierfür. Dieses Angebot zeige aber auch deutlich, „dass die Gemeinsamkeiten in Ihrer Koalition ganz offensichtlich beendet sind“, so Dobrindt. „Sie machen uns ein Angebot, weil Sie in ihrer eigenen Ampel für zentrale Fragen keine Mehrheit mehr sehen, Herr Bundeskanzler.“ Als erstes müsse man dann über die Bewältigung einer der aktuell zentralsten Krisen, der Flüchtlingskrise, reden. Dobrindt fordert Kontrollen auch an der Grenze zu Polen. Auf diesen Punkt wird die Union in den nächsten Monaten sicher zurückkommen.
AfD-Chef Tino Chrupalla kommt nach den beiden Hauptprotagonisten an diesem Tag, die Stimmung fällt merklich ab, viele Abgeordnete der Regierung verlassen den Saal. Der Mittelpunkt von Chrupallas Rede ist die Forderung nach Neuwahlen. „Die Zeit der Ampel ist abgelaufen“, betont er und kritisiert die Regierung unter anderem wegen der Energiepreise, der Inflation und des Heizungsgesetzes. An den Kanzler gerichtet, der weiterhin wegen seines Sportunfalls seine Augenklappe trägt, sagt er: „Öffnen Sie wieder, wenn Sie können, bitte beide Augen und sehen Sie, wie die deutsche Wirtschaft reagiert, wie sie abschmiert, und kümmern Sie sich endlich um das Rückgrat in diesem Land, um die deutsche Wirtschaft.“
Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali redet sich in Rage, moniert, dass Scholz die Probleme im Land kleinrede und „grottenschlechtes Regierungshandeln“ beschönige. „Deutschland ist in einer großen Wirtschaftskrise“, sagt Mohamed Ali. „Wir dürfen jetzt nicht sparen, wir brauchen große Investitionspakete.“
Scholz hört auch ihr konzentriert und eher regungslos zu. Ab und an schiebt er die Augenklappe ein wenig hin und her. Vielleicht wird sie für ihn künftig zu einer Art Talisman des Wiederaufstehen nach einem Fall. Seine Ampel-Koalition kann es brauchen für die zweite Halbzeit.