Schlichtungsspruch zu Stuttgart 21 Geißler: Jurist, Philosoph, Dramaturg

Stuttgart/Berlin (RPO). Großer, zelebrierter Schluss-Auftritt des Schlichters im Streit um das Riesenbauprojekt Stuttgart 21: Der neue Tiefbahnhof soll gebaut werden, aber unter verbessernden Auflagen. Kaum hatte Heiner Geißler sein Votum verlesen, schallten laut Protestrufe durchs Stuttgarter Rathaus.

Heiner Geißler - streiterprobter Querdenker
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Heiner Geißler, der Schlichter im Streit um das nun bestätigte Bahn- und Städtebauprojekt Stuttgart 21, ist Philosoph und Jurist. Obendrein gilt Geißler als politischer Alt-Star. Geißler hätte es auch als Dramaturg im Leben weit gebracht. Denn wie er gestern den Schluss der jeweils stundenlangen Argumentations- und Informationstage im Stuttgarter Rathaus inszenierte, zelebrierte, auf den Kulminationspunkt "Votum des Schlichters" hin zuspitzte — das zeugte von Bühnenkunst, Begabung zur Theatralik — und auch von entschuldbarer Eitelkeit des Hauptdarstellers.

Gegner blieben "Kinder des Zorns"

Statt wie angekündigt um ein Uhr trat der Schlichter erst kurz vor fünf vor den Vorhang. Zuvor gab es zwar keinen weißen Rauch wie nach dem vatikanischem Konklave, aber doch ein feierliches "Habemus" — "Wir haben einen Schlichterspruch". Man weiß nicht, ob der ins Lateinische verliebte Geißler seinen nicht rechtlich, aber politisch-psychologisch verpflichtenden Rat innerlich als ein "Roma locuta, causa finita" ("Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden") versteht. Das haben aber viele im Rathaussaal und an den Fernsehschirmen wohl so empfunden.

Nur die unversöhnlichen Gegner von Stuttgart 21 blieben Kinder des Zorns. Kaum hatte der Schlichter das sechswöchige "Demokratie-Experiment" (Geißler) für beendet erklärt und dem Reform-Projekt unter Bedingungen seinen Segen erteilt, da schallte es von draußen: "O-ben blei-ben, o-ben blei-ben!" dann auch "Ma-ppus weg, Ma-ppus weg!" Ob Stefan Mappus, der CDU-Ministerpräsident im Südwesten, verschwindet, entscheiden am 27. März die wahlberechtigten Badener, Württemberger, Schwaben. Ob der Stuttgarter Bahnhof "oben bleibt" oder künftig unterirdisch verläuft, das entscheidet letztlich die Bahn AG. Nur sie, so machte Geißler klar, könnte Stuttgart 21 noch stoppen, falls sie freiwillig auf ihr Baurecht verzichtete. Was sie jedoch nicht tun wird.

Geißler erteilte anstrengende Hausaufgaben

Also, in Abänderung des berühmten Brecht-Zitats: "Vorhang zu und keine Fragen offen?" Das nicht. Geißler erteilte der Bauherrin anstrengende Hausaufgaben. Geißler will mehr als Stuttgart 21, er wünscht Stuttgart 21 plus. Der Schlichter trug der Bahn AG auf, per Simulation und "Stresstest" nachzuweisen, dass neue Gleiszufahrten in den neuen Tiefbahnhof ausreichen, damit auch in Spitzen-Zeiten des Bahnverkehrs der geplante Bahnknoten Wendlingen nicht überlastet ist.

Geißler verlangte zudem zwei zusätzliche Gleise im neuen Hauptbahnhof. Außerdem dürfen nach Schlichter-Votum die teilweise uralten Bäume im Bahnhof-nahen Schlosspark nicht gefällt, sie sollten vielmehr verpflanzt werden. Bahnchef Rüdiger Grube sagte anschließend zu, man sei nicht betonköpfig, werde sämtliche Auflagen erfüllen wie es der Schlichter anmahne.

Andere Nachrüstungs-Vorschläge fallen eher in die Kategorie "kosmetische Operation". Der neue Tiefbahnhof solle ökologisch-sozial noch attraktiver, noch familien- und behindertengerechter gestaltet werden. Und auch dies war dem Christdemokraten und Anti-Kapitalisten Geißler wichtig: Dass sicher gestellt wird, dass die frei werdende City-Fläche von 100 Hektar nicht in die Hände von Spekulanten fällt.

Die Gründung einer von der Stadt Stuttgart zugesagten Stiftung soll gewährleisten, dass nicht Immobilien-Haie etwas zum Fressen bekommen, vielmehr Menschen und Familien aller Schichten neue, bezahlbare Lebensqualität im Stadtzentrum genießen können. Die Gegner von Stuttgart 21, die sich einen anderen Schlichterspruch gewünscht hatten, mussten sich von Geißler dies anhören: Bei einem Ausstieg aus dem Projekt entstünden dem Steuerzahler Schadensersatz-Kosten, die von Wirtschaftsprüfern auf eine bis 1,5 Milliarden Euro beziffert würden. Geißler: "Viel Geld dafür, dass man am Ende gar nichts bekommt."

Mehr offene Diskussionsprozesse

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) sagte unserer Redaktion: "Wir werden den Schlichterspruch ernst nehmen und nun zunächst mögliche Konsequenzen für den Bund prüfen". Künftig müsse es mehr offene Diskussionsprozesse bei Großprojekten geben. FDP-Verkehrsexperte Patrick Döring appellierte an die Gegner und die Grünen, den Schlichterspruch nicht auch noch abzulehnen, das wäre nun wirklich nur noch "reine Dagegen-Politik".

Kritisch äußerte sich der Chef des Verkehrsausschusses im Bundestag, Winfried Hermann (Grüne). Die vielen tausend Protestierenden könnten nicht verstehen, dass Milliarden für einen unterirdischen Tiefbahnhof ausgegeben werden, der nicht besser, sondern schlechter als der vorhandene Kopfbahnhof sei. Die Proteste würden weitergehen, sagte Hermann unserer Redaktion.

Geißler behielt auch hierzu das letzte, feierliche Wort: "Das Demonstrationsrecht ist ein heiliges Recht, es bleibt auch nach der Schlichtung voll erhalten."

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