Helmut Kohl Gefangen in Oggersheim

Zum Auftakt der CDU-Festwoche zur Erinnerung an den Beginn der Ära des Kanzlers der Einheit vor 30 Jahren ist von einer Tragödie Helmut Kohls und von einem geplanten Enthüllungsbuch die Rede.

Helmut Kohl – Bilder aus seinem Leben
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Helmut Kohl – Stationen seines Weges

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Heute erscheint "Der Spiegel" mit einem Aufmerksamkeit heischenden Titel: "Betrogen, getäuscht, isoliert. Die Tragödie des Helmut Kohl". Rudolf Augstein, dem unvergessenen Gründer, Herausgeber und intellektuellen Kopf des Magazins, hätte die Story gefallen. Augstein, der über den großen Friedrich, den Titanen Bismarck geschrieben hat, hatte zeitlebens ein Faible für Historisches, dort besonders für die großen Gestalter, die Männer, die nach von Treitschkes umstrittenem Diktum Geschichte machen.

Augstein in seiner hanseatischen Dünkelhaftigkeit hat Kohl lange unterschätzt, gering geschätzt. Doch dann, 1989/1990, kamen Kohls legendäre 329 Tage. Die deutsch-europäische Geschichte machte ihren Tigersprung. Kohl war der entscheidende Mann in der Manege. Augstein presste sich im "Spiegel"-Kommentar seine legendäre Schlusszeile "Glückwunsch, Kanzler!" ab, nachdem dem Kanzler mit dem angeblich beschränkten "pfälzischen Rundhorizont" (Helmut Schmidts Vertrauter Klaus Bölling) im Juni 1990 bei Gorbatschow im Kaukasus der endgültige Durchbruch zur Einheit in Freiheit und mit Westbindung gelungen war.

Wie hätte Augstein die neue, große Kohl-Story kommentiert? Was hätte er zur Ankündigung des in Kohl-Interna der privaten sowie politischen Art tief eingeweihten Publizisten Heribert Schwan gesagt, ein Enthüllungsbuch über den Menschen und Staatsmann zu veröffentlichen? Wir können es nur ahnen, denn Augstein starb vor zehn Jahren. Seine Tochter Franziska hatte bei der Trauerfeier in St. Michaelis zu Hamburg ("Michel") an ihres Vaters spezifischen Realismus über Ruhm erinnert: Den toten Löwen zögen auch die Hasen an der Mähne.

Helmut Kohl lebt noch, auch wenn man nach einer Herzklappen-OP im Frühjahr mit dem Ableben hatte rechnen müssen. Aber an der Mähne dieses Löwen der deutschen Geschichte machen sich schon viele zu schaffen: Kohl hat keine Macht mehr, er ist körperlich, nicht geistig, schwer gezeichnet, seit 2008 ein Pflegefall, auf die energisch umsorgende Regie seiner zweiten Ehefrau Maike angewiesen. Der "Löwe" kann nicht mehr brüllen, selbst reden beschränkt sich auf wenige Sätze oder wie hingeworfen wirkende Wörter.

Maike Richter-Kohl — das unterstreicht der "Spiegel"— ist so etwas wie die Wächterin der "Löwen"-Burg in Ludwigshafen-Oggersheim. Argwohn, Ablehnung, gar Hass schlägt dem hart-zarten Siegerländer "Burg"-Fräulein entgegen. Ehemalige Vertraute des kranken Staatsmannes mit den menschlichen Unzulänglichkeiten (Schwans Buch über Kohls erste Ehefrau Hannelore oder die Aufzeichnungen des ältesten Sohnes Walter erzählen davon) beklagen bitter bis zornig, dass der alte Löwe von seiner Pflegerin mit Ehering wie in einem Käfig eingesperrt werde, ferngehalten von politischen Gefährtinnen und Gefährten, die nicht glauben mögen, das er es war, der das alte Band der Sympathie zerschnitten hat.

Wenn Helmut Kohl — ein raumfüllender Koloss noch im Rollstuhl — in dieser CDU-Festwoche zu seinen Ehren noch einmal das Berliner Parkett beherrscht, wird Maike Richter-Kohl wieder die Hand am Vehikel haben, dem Ehemann darin nicht von der Seite weichen, ihn mit zärtlichen Blicken streifen. Kalte Blicke jedoch werden andere treffen, beispielsweise diejenigen, die den Kanzler der Einheit und Ehrenbürger Europas morgen und am Donnerstag wortreich rühmen werden, die aber während der Spendenaffäre 1999/2000 den Dolch im Gewande trugen und zustießen, als Kohl selbstverschuldet wankte.

Noch einmal Rudolf Augstein: In seinem wunderbaren Bismarck-Essay von 1985 unterschied er trefflich zwischen dem preußisch-deutschen Staatskünstler und dem Privatmann. Letzterer sei auch gehässig, kleinlich, boshaft gewesen, "eben nur ein Mensch".

Bei Helmut Kohl beginnen die Deutungen bereits zu Lebzeiten. Maike Richter-Kohl versteht sich als erste Bewunderin und zur Irritation zahlreicher Kohl-Interpreten zudem als dominante Prima, die darüber wacht und bestimmt, was aus der "Löwen"-Burg im Ludwigshafenener Stadtteil Oggersheim nach außen dringt. Vielleicht sogar, so wird ihr unterstellt, schwingt sie sich zur politischen Geschäftsführerin ohne Auftrag des fast Verstummten auf.

Fälschungen, Geschichtsklitterungen, Lügen — es liegt etwas gegen Kohl in der Luft. Zeit auch für Kleinmünzen-Wechsler wie Peter Struck. Der frühere SPD-Fraktionschef und Verteidigungsminister, den schon sein Parteifreund Gerhard Schröder der Mittelmäßigkeit verdächtigte, warnte nun die Union davor, bei den bevorstehenden Feierlichkeiten zu Ehren Helmut Kohls dessen Rolle in der CDU-Spendenaffäre unter den Teppich zu kehren. Das Verschweigen der Spender sei kein Kavaliersdelikt gewesen. Wie wahr. Einer wie Augstein wusste: Wann je waren große Menschen, politische Beweger frei von Schuld?

Man weiß nicht, was das Enthüllungsbuch Schwans — auch er ein Vertrauter und Ghostwriter des Kanzlers a.D., der aus der "Löwen"-Burg vertrieben wurde — an Sensationellem bringen wird. Eins ist gewiss: Ohne Helmut Kohls 329-Tage-Wirken in der Weltgeschichte ginge es Millionen von Ostdeutschen schlechter. Eine Kanzlerin Angela Merkel — sie gäbe es nicht.

(RP/csi)
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