Sigmar Gabriel im Interview "Ganztagsschule ist die Zukunft"

Berlin · Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel über die sinnvollsten Schulformen, die Verhandlungen mit der Bundesregierung über den Fiskalpakt sowie die Europapolitik und über sein Bedauern, dass Hannelore Kraft nicht als Kanzlerkandidatin zur Verfügung steht.

 Sigmar Gabriel fordert den massiven Ausbau der Ganztagsschulen.

Sigmar Gabriel fordert den massiven Ausbau der Ganztagsschulen.

Foto: dapd, Andreas Prost

Regierung und Opposition nähern sich in der Europapolitik an. Wird sich die SPD darauf einlassen, Fiskalpakt und Rettungsschirm ESM noch vor der Sommerpause zu beschließen?

Gabriel Das hängt davon ab, ob die Bundesregierung endlich die Bedenken der Länder ausräumt. Und ob wir zu den Themen Wachstum und Investitionen ein nachhaltiges Programm vereinbaren können. Denn das ist im deutschen Interesse.

Wie soll das konkret aussehen?

Gabriel Ein wichtiger Schritt ist, dass wir den wesentlichen Teil der Finanzierung eines solchen Programms über die Besteuerung der Finanzmärkte sichern werden, das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Wir können das ja nicht wieder mit Krediten finanzieren. Die Spekulanten haben einen erheblichen Anteil an der Finanzkrise. Da ist es nur fair, sie an den Kosten der Krise zu beteiligen.

Die FDP sagt, die Finanzmarktsteuer dürfe nicht Realwirtschaft und kleine Sparer treffen. Ist das erfüllbar?

Gabriel Die Spekulationen, die wir besteuern wollen, sind die Realwirtschaft in der Vergangenheit teuer zu stehen gekommen. Aber natürlich kann man beispielswiese die Pensionsfonds ausnehmen. Das fordern auch die Niederländer.

Wo wollen Sie investieren?

Gabriel Investiert werden muss vor allem in die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit. Europa ist in Gefahr, eine verlorene Generation zu produzieren. Und Aufgaben gibt es genug: den Ausbau der Breitbandnetze sowie Forschung und Entwicklung. Es geht auch um die Bereiche Energieeinsparung und Energieeffizienz. Deutschland ist ja das beste Beispiel: In der Krise haben wir viele Tausend Jobs im Handwerk gesichert, indem wir in die Wärmedämmung unserer Häuser investiert haben.

Wie viel Geld soll die Finanzmarktsteuer bringen?

Gabriel Die Bundesregierung hat ja nun erklärt, dass sie den bislang von ihr blockierten Vorschlag der Brüsseler Kommission für die Besteuerung der Finanzmärkte zur Grundlage machen will. Die Kommission geht davon aus, dass für ganz Europa 57 Milliarden Euro pro Jahr zusammenkommen könnten. Da aber zu Beginn sicher nicht alle Staaten mitmachen, wird die Summe natürlich deutlich niedriger ausfallen.

Am Ende fehlt also doch Geld für Investitionen.

Gabriel Nein. Die EU muss das vorhandene Geld auch sinnvoller einsetzen. Im EU-Haushalt werden über 40 Prozent für Agrarsubventionen aufgewendet — auch zur Förderung industrieller Landwirtschaft, was keine Arbeitsplätze schafft. Außerdem müssen wir die Strukturfonds-Mittel besser einsetzen.

Welche Länder werden bei der Finanzmarktsteuer mitmachen?

Gabriel Wir wissen, dass wir die Niederländer gewinnen können. Außerdem Frankreich, Österreich, Spanien, Belgien, Finnland, Portugal, Italien. Nach den europäischen Verträgen brauchen wir mindestens neun Länder, und die lassen sich finden. Bislang war Deutschland der größte Bremser.

Deutschland streitet über die Bildungspolitik für Kleinkinder. Aber die Eltern, die heute Kitaplätze nutzen, benötigen in vier Jahren Plätze in Ganztagsschulen für ihre Kinder. Brauchen wir auch den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz?

Gabriel Wir müssen die Ganztagsschulplätze drastisch ausbauen. Das ist der Grund, warum wir uns in Deutschland bei der Steuerfrage endlich ehrlich machen müssen. Wer behauptet, wir könnten mehr für Bildung ausgeben und gleichzeitig Schulden abbauen, ohne die Steuern zu erhöhen, der sagt wissentlich die Unwahrheit.

Wie viel Geld ist nötig?

Gabriel Wir müssen endlich so viel in Bildung investieren wie die anderen Industrienationen. Wir sind wirtschaftlich ein Riese, aber bei den Bildungsausgaben ein Zwerg. 20 Milliarden Euro pro Jahr müssen wir zusätzlich in das Bildungssystem investieren, damit wir wenigstens den Durchschnitt der OECD erreichen. Dieses Geld muss auch in den Ausbau von Ganztagsschulen fließen. Dafür werden wir die Kapital- und die Vermögensbesteuerung erhöhen und auch den Spitzensteuersatz anheben.

Werden Sie dann auch einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz gewähren?

Gabriel Das ist Sache der Länder. Vor allem aber muss klar sein: Wir brauchen die Ganztagsschule nicht nur zur Nachmittagsbetreuung. In erster Linie brauchen wir die Ganztagsschulen aus pädagogischen Gründen.

Deutschland und Österreich sind die einzigen Industrienationen, die noch Halbtagsschulen haben. Brauchen wir perspektivisch auch die verpflichtende Ganztagsschule?

Gabriel Die Schule der Zukunft wird eine Ganztagsschule sein. Dabei geht es um ein pädagogisches Konzept mit Sozialpädagogen, Schulpsychologen, Theater- und Sportpädagogen, die gemeinsam mit den Eltern und Lehrern einen Bildungs- und auch einen Erziehungsauftrag erfüllen. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass jährlich 60 000 junge Menschen die Schule verlassen, ohne eine Ausbildung beginnen zu können.

Ist es schade, dass NRW-Ministerpräsidentin Kraft in aller Klarheit gesagt hat, dass sie für eine Kanzlerkandidatur nicht zur Verfügung steht?

Gabriel Wenn sie es gewollt hätte, hätte ich es sehr begrüßt, wenn sie zum Kreis möglicher Kanzlerkandidaten gehört hätte. Das habe ich ihr auch vor der Wahl in NRW gesagt, aber sie hat sich klar für NRW entschieden — und wer sie kennt, weiß: Was sie vor der Wahl sagt, gilt immer auch nach der Wahl.

Eva Quadbeck führte das Gespräch.

(RP/jre/csi/jh-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort