Analyse zur Erdogan-Affäre Fünf Lehren aus dem Fall Özil

Düsseldorf · Auch wenn es derzeit nicht so aussieht: Vielleicht hat die Debatte um Mesut Özil am Ende sogar ihr Gutes. Gerade dieser Fall zeigt nämlich, dass es ohne Differenzierung nicht geht, auch wenn das anstrengend ist. Und viele naheliegende Schlüsse führen in die Irre. Eine Einladung zur Nachdenklichkeit.

Das vermutlich letzte Spiel im deutschen Nationaltrikot: Mesut Özil am 27. Juni gegen Südkorea.

Das vermutlich letzte Spiel im deutschen Nationaltrikot: Mesut Özil am 27. Juni gegen Südkorea.

Foto: dpa/Christian Charisius

Die Fußball-Nationalmannschaft verliert mit Mesut Özils Rücktritt einen begnadeten Techniker. Das ist ein Verlust, ein Schaden. Zugleich wird die politische Debatte um Özil hierzulande mit großer Erbitterung geführt. Darin nicht notwendigerweise einen Schaden zu erkennen, mag man für naiv halten. Aber vielleicht bleibt nach dem großen Getöse doch die eine oder andere Erkenntnis; man wird ja wohl noch hoffen dürfen. Fünf Anregungen.

1. Es ist kompliziert.

Klingt banal, ist es aber nicht. In einer Einwanderungs- und Integrationsgesellschaft wie der deutschen kann es doppelte Identitäten, auch doppelte Loyalitäten geben. Özil ist ein Beispiel dafür; dass er damit denkbar ungeschickt umging, indem er mit dem Autokraten Recep Tayyip Erdogan posierte, ändert nichts daran. Beleg für dieses Leben in zwei Welten sind auch nicht nur Özils Einlassungen; Belege sind all jene nachdenklichen Beiträge von Mitbürgern mit Wurzeln im Ausland, die in diesen Tagen zu lesen und zu hören sind. Beleg sind schließlich Studien, die eben diese Zerrissenheit in Zahlen fassen, zuletzt am Montag die Erhebung zu den Türkischstämmigen in NRW. Schon diese Uneindeutigkeit müsste eigentlich dazu führen, dass die Debatte differenzierter geführt wird. Über daraus folgende politische Forderungen jenseits der Akzeptanz von Recht und Gesetz, etwa ein Ja oder Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft, ist damit noch nichts gesagt. Nur über den Umgang mit wachsender Verschiedenheit. Anders gesagt: über eine Geisteshaltung.

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2. Unpolitisch sein gilt nicht.

Ein Foto mit Erdogan verrät in der Tat so ziemlich alles, wofür die deutsche Nationalmannschaft stehen sollte: Demokratie, Menschenrechte, Vielfalt. Ein solches Foto ist eine politische Botschaft, ob man das will oder nicht. Sich dazu keine weitere Meinung zu leisten – oder eine gründlichere Erklärung zu verweigern und sich auf einen vorpolitischen Wert wie Respekt zurückzuziehen –, ist ein Unding. Wer sich mit Demokratieverächtern oder Rassisten (türkischen wie deutschen) einlässt, darf sich nicht wundern, wenn er damit seine Karriere ruiniert. Umgekehrt geht es nicht an, das Mitwirken in der Nationalmannschaft sozusagen von einem Gesinnungstest abhängig zu machen, nach dem Motto: Nur wenn du zu 100 Prozent deutsch tickst, darfst du mitspielen. Siehe oben: Es ist komplizierter.

3. Der Rassismusvorwurf lässt sich nicht einfach wegwischen.

Nicht alles, was Özil in seinem Rücktrittsstatement für rassistisch erklärt, hält dieser Definition stand. Daraus aber den Vorwurf zu fabrizieren, Özil stilisiere sich zum Rassismusopfer, ist ebenso wohlfeil. Wenn die Mehrheit einer Minderheit erklärt, wie der Umgang der Mehrheit mit ihr gemeint sei, führt das meist zu nichts Gutem, egal ob die Minderheit Deutschtürken, Schüler mit Handicap oder Schwule und Lesben sind – aus dem einfachen Grund, dass der Mehrheit meist die entsprechende Lebenserfahrung fehlt. Diskriminierung aufgrund der Herkunft ist in Deutschland alltägliche Realität; Studien belegen auch das. Deswegen ist nicht Deutschland ein rassistischer Staat und sind nicht „die“ Deutschen Rassisten. Trotzdem darf die Mehrheit das offenbar verbreitete Empfinden, sozusagen Deutscher auf Bewährung zu sein, nicht einfach abtun, und zwar deshalb, weil sie seine Richtigkeit nicht ohne Weiteres überprüfen kann. Diskriminierung ist subjektiv, aber deshalb kein Hirngespinst. Wer sie nicht selbst erfahren hat, sollte sehr vorsichtig damit sein, diese Erfahrung anderen abzusprechen.

4. Kritik muss sich von falschen Freunden emanzipieren.

Nur weil etwas aus der falschen Ecke kritisiert wird, muss das Kritisierte noch nicht richtig sein. Özil hat sich falsch verhalten; nur weil das auch Rassisten aus der AfD sagen, ist die Behauptung nicht per se falsch. Ebenso gilt: Nur weil Erdogans Handlanger sagen, Deutschland sei rassistisch, heißt das nicht, dass es in Deutschland keinen Rassismus gäbe. Aus Özils Fall eine Debatte über Werte und Integration abzuleiten, ist nicht verwerflich, nur weil die AfD aus der angeblichen Überfremdung der Nationalelf ihr stinkendes Süppchen kochen will.

5. Selbstkritik ist kein Luxus.

Özil hat in vielem unrecht; sein Foto war ein Fehler. Das hätte er erstens verstehen und zweitens formulieren müssen. Gleiches aber gilt für seine Gegner. Sie schießen mit ihrer Kritik in vielem übers Ziel hinaus, nicht nur der DFB, nicht nur Uli Hoeneß mit seinen unsäglichen Sätzen. Es kann sein, dass beide Seiten teils recht und teils unrecht haben. Kritik, auch harte, gehört zur Demokratie. Ohne Selbstkritik aber, seit jeher eine rare Tugend, sieht es duster aus für unsere politische Kultur.

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