Bürger auf den Barrikaden Fortschritt? Nein danke!

Stuttgart (RP). Das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, die CO-Pipeline am Niederrhein oder der Streit um Kohlekraftwerke: Immer öfter blockieren Bürger mit Hilfe von Gerichten und Politik industrielle Großprojekte. Mal ist Technikfeindlichkeit der Grund, mal das Sankt-Florians-Prinzip. Das bringt den Standort Deutschland in Gefahr.

Zehn Fakten zu Stuttgart 21
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Foto: dapd

Bahn-Chef Rüdiger Grube kann es nicht fassen: Obwohl der Bundestag dem Projekt Stuttgart 21 schon 2008 zugestimmt hat, obwohl die Verträge unterzeichnet und die Baugenehmigungen erteilt sind — die Bürger gehen auf die Straße. Und sie werden gehört.

Dass Parlaments-Entscheidungen nicht unbedingt viel wert sind, erlebt nicht nur die Bahn. Auch die Bayer AG war schon mal sicher, ihre Kohlenmonoxid-Pipeline bald nutzen zu können, nachdem der Landtag zugestimmt hatte. Doch dann regten sich die Bürger und erreichten, dass das Oberverwaltungsgericht die Inbetriebnahme untersagte. Konzernkenner erwarten, dass der giftige Rohstoff niemals durch die Röhre fließen wird.

Endlager in Gorleben, Olympia 2018 in München, Elbvertiefung in Hamburg — überall versuchen Bürger, ambitionierte Großprojekte zu stoppen. Industriepräsident Hans-Peter Keitel spricht von einer "Null-Risiko-Mentalität des Dagegen-Seins". Oft treten die Gegner im Namen des Umweltschutzes auf — und verhindern doch nur ökologischen Fortschritt.

So würde der Ersatz des Eon-Kohlekraftwerks in Datteln durch die modernste Anlage Europas den Ausstoß von Kohlendioxid pro Jahr um 1,7 Millionen Tonnen senken. Ähnliches gilt für die unterirdische Speicherung des Gases, die Bürger in Schleswig-Holstein und im Oderbruch bekämpfen. Selbst die Umweltorganisation WWF lobt diese Technik als Weg, den Klimakiller zu entsorgen. Warum dann immer wieder geballter Protest?

Technikfeindlichkeit Nur 63 Prozent der NRW-Bürger finden, dass wissenschaftlicher Fortschritt mehr Chancen als Risiken bringt, so eine Studie des Landes. Bis zu zehn Prozent lehnen den Bau von Industrieanlagen grundsätzlich ab. Das war früher anders. Zumindest im Ruhrgebiet wurde halt die Wäsche reingeholt, wenn die Schlote qualmten. Heute arbeiten 70 Prozent der Deutschen im Dienstleistungssektor und haben den Bezug zur Industrie verloren. Hier gilt oft das Sankt-Florians-Prinzip: Jeder will preiswerten Strom und gute Flugverbindungen, aber kein Kraftwerk und keinen Airport vor der eigenen Tür.

Politikschwäche Immer wieder schlagen sich Politiker — die nächste Wahl fest im Blick — auf die Seite der Protestierer, selbst wenn sie früher für die Industrieprojekte waren. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen war erst dafür, dass RWE einen unterirdischen Kohlendioxid-Speicher anlegt, er wollte Deponiegebühren verlangen. Doch als eine Bürgerbewegung aus Landfrauen, Gastwirten und vermeintlichen Umweltfreunden entstand, machte er eine Kehrtwende und erzwang, dass der Bund das Projekt platzen ließ.

Unternehmensfehler Konzerne schüren oft das Misstrauen gegen die Industrie. Nichts war so hilfreich für die Anti-Atomkraft-Bewegung wie Vattenfalls Pannenreaktor Krümmel oder die Lecks im Atommüll-Lager Asse. Viel zu spät und zögerlich hat Bayer die Informationspolitik hochgefahren, wie selbst andere Industriechefs kritisieren.

Planungsrecht Das deutsche Planungsrecht und der verrechtliche Naturschutz geben Bürgern viele Möglichkeiten, gegen Großprojekte vorzugehen. Die werden genutzt. Früher gingen Industrie-Gegner auf die Straße, heute gehen sie vor Gericht oder leiten Bürgerbegehren ein. Die Bürger im saarländischen Ensdorf stoppten so den von RWE geplanten Neubau des Kraftwerks.

Die Folgen der Industrie-Feindlichkeit sind erheblich. Das Institut der deutschen Wirtschaft mahnt, der Wirtschaft werde die Investitionssicherheit genommen. Arbeitsplätze sind gefährdet — in Datteln, Krefeld und anderswo. Wie sagt die Kanzlerin? In Stuttgart gehe es auch um die Zukunftsfähigkeit des Landes.

(RP)
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