Mordfall Walter Lübcke Die rechtsextremistische Bedrohung

Berlin · Im Mordfall Walter Lübcke ermittelt die Polizei auch in Richtung möglicher Komplizen. Der Tatverdächtige war allerdings zehn Jahre unauffällig. Und die Liste gewaltbereiter Rechtsextremer ist so lang, dass nicht jeder Einzelne im Blick behalten wird.

 Ein Demonstrationszug in Hamburg unter dem Motto «Stoppt die rechte Gewalt!» dreht um, nachdem der Zug am Pferdemarkt von der Polizei gestoppt worden war.

Ein Demonstrationszug in Hamburg unter dem Motto «Stoppt die rechte Gewalt!» dreht um, nachdem der Zug am Pferdemarkt von der Polizei gestoppt worden war.

Foto: dpa/Bodo Marks

Die bitterste Erkenntnis am Tag nach der Bestätigung rechtsextremistischer Motive für den Mord an Kassels Regierungspräsident Walter Lübcke hält Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang bereit: „Angesichts der Dimension der Bedrohung durch den Rechtsextremismus sind wir noch nicht wirklich in der Lage zu sagen: Wir beherrschen diese Bedrohung vollständig.“ 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten haben die Sicherheitsbehörden auf ihrer aktuellen Liste. Die ist so lang, dass sie nicht jeden Einzelnen im Blick behalten können. Und Stephan E., der mutmaßliche Mörder Lübckes, gehörte offenbar nicht einmal dazu.

Der letzte Eintrag über verdächtiges Treiben des einschlägig rechtsextremistisch Kriminellen datiert von 2009. Und dass die Hinweise auf ihn nach so langer Zeit der Unauffälligkeit nicht längst gelöscht sind, liegt an einer rechtsterroristischen Mordserie: Weil parlamentarischen Untersuchungen zum NSU-Terrornetzwerk noch laufen, haben die Behörden die gesetzlich vorgeschriebenen Löschungen im Bereich des Rechtsextremismus ausgesetzt.

Hatte der mutmaßliche Mörder Lübckes auch aktuell Kontakt zur Dortmunder Rechtsextremisten-Szene? Nahm er selbst an Schießübungen im Ausland teil? Wussten die Behörden von seinen Drohungen unter Pseudonym auf Youtube, es werde „Tote geben“, wenn diese Regierung nicht abdanke? Gab es Verbindungen zur rechtsterroristischen Kampfgruppe „Combat 18“, dem militärischen Arm jenes verbotenen Blood-and-Honour-Netzwerkes, das den NSU-Tätern Schutz gewährt haben soll? War er also selbst in ein Netzwerke eingebunden oder handelte er allein?

Zu all diesen Fragen gab es am Dienstag von den Behörden noch keine Aussagen. Die Ermittlungen gingen in alle Richtungen, erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer. Nach Medienberichten knüpft das an angebliche Zeugenaussagen an, wonach sich zwei Autos schnell vom Tatort entfernt hätten. Das BKA und der Verfassungsschutz unterstützten das ermittelnde Landeskriminalamt dabei, die Kontakte E.’s abzuklären. Dieser verweigere die Aussage, berichtete BKA-Präsident Holger Münch. Die Tatwaffe sei noch nicht gefunden worden.

Jedenfalls handelt es sich nicht um eine des Schützenclubs Sandershausen, in dem E. Mitglied war. Er hätte dort nur unter Aufsicht schießen können, da er keine Waffenbesitzerlaubnis hat, davon habe er jedoch keinen Gebrauch gemacht, berichtete Vereinspräsident Reiner Weidemann. Er beschrieb E. als unauffällig, freundlich und ruhig - und für die Bogenschützen des Vereins zuständig.

Eine Reihe von Tweets zu den Äußerungen Lübckes und zu seiner Ermordung sind in den letzten Tagen gelöscht worden. Auffällig war die tagelange Zurückhaltung der AfD, die bei Gewalttaten oft binnen Sekunden reagiert. Dieses Mal brauchte sie bis Dienstag Mittag für die Distanzierung von „extremistischer Gewalt in jeder Form“. Zuvor hatte sie bereits dementiert, von E. eine Spende erhalten zu haben.

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Werner Patzelt wird der Fall Walter Lübcke „hoffentlich allseits die Sensibilität dafür wachsen, dass man es beim politischen Streit auch schon in der Wahl der Worte nicht so weit kommen lassen darf, dass am Ende Motivation für einen Mord entstehen kann“. Dass die AfD so lange brauchte für eine Stellungnahme führt Patzelt darauf zurück, dass die Partei aus zwei Strömungen bestehe. Während die einen sich „klammheimlich gefreut“ hätten, seien die anderen schamrot geworden. Am Ende habe jedoch auch die AfD begriffen, „welche Ungeheuerlichkeit da geschehen ist“. Der politische Mord könne auch weitere Auswirkungen auf die Partei haben. „Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich die Staatstragenden in der AfD unter Bezug auf den Mord nun besser gegen die Demagogen in ihrer Partei durchsetzen könnten“, so Patzelt.

In den sozialen Netzwerken wurde auch eine Stellungnahme von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zum rechtsextremistisch motivierten Mord an ihrem Parteifreund zunächst vermisst. Am späten Dienstag Nachmittag äußerte sich die Parteivorsitzende in einer Presseerklärung schockiert vom gewaltsamen Tod Lübckes. Sie habe Vertrauen in die Arbeit der Ermittler und appellierte: „Unsere Gesellschaft darf niemals schweigen gegenüber rechtsextremistischem Hass und rechter Hetze.“

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