Die Rede von Rüttgers im Wortlaut Europas Rolle in einer neuen Weltordnung (2)

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II.

Aber lassen Sie mich zunächst noch etwas zur Zukunft dieses Europäischen Modells in Europa selbst sagen. Denn die größte Gefahr für die Wirksamkeit des Europäischen Modells im Sinne eines Weltordnungsmodells geht davon aus, dass es hier in Europa an Einfluss und Wirkung verlieren könnte. Und diese Gefahr ist sehr real, denn auf weltumspannenden Märkten stehen nicht nur Unternehmen im Wettbewerb um Aufträge, sondern auch Arbeitnehmer um Arbeitsplätze und selbst Nationalstaaten um Investoren.

In dieser Situation haben viele Menschen das Gefühl, dass Europa als Beschleuniger der Entgrenzung wirkt. Sie haben das Gefühl, dass dadurch der soziale Zusammenhalt immer stärker in Frage gestellt wird. Sie haben das Gefühl, dass soziale Gerechtigkeit immer weniger Realität ist, sondern wieder mehr zur Utopie wird.

Und dieses Gefühl trügt keineswegs. Die EU ist tatsächlich die Antwort auf die Entgrenzung — und zugleich ihr Motor. Viele Menschen wollen deshalb eine dreifache Begrenzung der Entgrenzung Europas: Sie wollen keine weiteren Liberalisierungen des Binnenmarkts — ich erinnere nur an die Debatten um die Dienstleistungsrichtlinie. Sie wollen keine territoriale Erweiterung der EU, das zeigen so gut wie alle Umfragen in fast allen Mitgliedsstaaten. Das gilt insbesondere und aus guten Gründen für die Türkei.

Und sie wollen einen wirksamen Schutz gegen Lohndumping und die Absenkung sozialer Standards durch die Billiglohnkonkurrenz aus anderen Teilen der Welt.

Ich finde, die Menschen haben mit diesen Wünschen recht. Das Europäische Modell ist nicht das neoliberale Wirtschaftsmodell, wie es sich in anderen Teilen der Welt immer mehr durchsetzt. Unser Modell ist das, was manche den Rheinischen Kapitalismus nennen. Ich ziehe den Begriff der Sozialen Marktwirtschaft vor. Sie bedeutet den Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit. Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit sind die zwei Seiten einer Medaille. Nur beides zusammen schafft Sicherheit für die Menschen, gerade in einer Zeit immer neuer Risiken.

Ich warne deshalb mit allem Nachdruck davor, dass Europa sich ein rein angelsächsisch geprägtes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell diktieren lässt. Die EU-Kommission darf nicht zum Motor einer Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft werden.

Wenn sie zum Beispiel unseren gewachsenen öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen will, dann geht das schlicht zu weit. Wenn es beihilferechtlich unmöglich wird, einem Unternehmen in Not mit einer Bürgschaft zu helfen, dann ist das falsch. Und das Gleiche gilt für ihre Vorstöße beim Bankenwesen. Auch hier haben wir gewachsene Strukturen, die sich bewährt haben. Die dürfen wir uns nicht kaputt machen lassen. Denn gerade der deutsche Mittelstand ist wegen seiner zu schmalen Eigenkapitalbasis auf die Sparkassen angewiesen — im Zeitalter von Basel II mehr denn je.

Das darf gleichwohl nicht heißen, Europa zur Festung zu machen und abzuschotten. Mit einer Form der Wirtschaftsregierung, mit Protektionismus oder mit den Forderungen nach einer stärker regulierenden EZB kommen wir nicht weiter. Europa profitiert ganz erheblich von der Globalisierung. Das gilt gerade für Deutschland als Exportland. Aber wir dürfen die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft angesichts des globalen Konkurrenzkampfs nicht aufs Spiel setzen. Nur wenn wir sie bewahren und weiter ausbauen, werden wir die Menschen eine Vertiefung der europäischen Integration akzeptieren.

Die Chancen stehen dafür gut. Denn acht von zehn Deutschen sind stolz darauf, Europäer zu sein. Und genauso viele meinen, dass die EU wichtig oder sogar sehr wichtig ist: Sowohl für die wirtschaftliche Entwicklung als auch für die innere und äußere Sicherheit Deutschlands. Ähnliche Umfrage-Ergebnisse finden sich in fast allen EU-Ländern. Diese Einstellungen gründen darin, dass die EU mehr Sicherheit — und das heißt mehr Wohlstand, mehr Freiheit und damit Frieden für die Menschen in Europa — geschaffen hat.

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