Bundestagspräsident Norbert Lammert im Interview "EU soll nationale Etats kontrollieren"

Berlin · Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Causa Steinbrück, das deutsche Wahlrecht, die Zukunft der Gemeinschaftswährung und die Frage, wie die Politik Europa für die Bürger attraktiver machen kann.

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Peer Steinbrück hat alle Nebenverdienste aus Vorträgen offengelegt. Ist das stilbildend?

Lammert Er hat sich bisher wie alle anderen Mitglieder des Hauses den geltenden Verhaltensregeln unterzogen und nun im Blick auf eine öffentliche Debatte eine zusätzliche Transparenz hergestellt, die darüber hinaus geht. Dazu war er nachweislich nicht verpflichtet. Ob das andere auch praktizieren wollen, bleibt ihnen überlassen.

Machen Sie sich Sorgen darum, dass einzelne Berufsgruppen durch die Transparenzdebatte von einer Kandidatur abgeschreckt werden könnten?

Lammert Die Tendenz, dass bestimmte Berufsgruppen nur noch schwer für die Übernahme politischer Ämter zu gewinnen sind, hat nicht erst mit den Verhaltensregeln begonnen. Sie ist durch diese zusätzlichen Verpflichtungen und die damit verbundene öffentliche Diskussion sicher weiter gefestigt worden.

Sollte es Regeln für ausscheidende Abgeordnete geben, etwa einen Mindestzeitraum vor der Übernahme bestimmter anderer Tätigkeiten?

Lammert Grundsätzlich würde ich eine Karenzzeit begrüßen, wobei allerdings die Unterschiede zwischen Regierungsämtern und parlamentarischen Mandaten zu berücksichtigen sind. Jedenfalls müsste eine Verpflichtung zum Verzicht auf berufliche Tätigkeiten nach Ausscheiden aus einem öffentlichen Amt mit einer Übergangsregelung für die Versorgungsansprüche verbunden werden.

Wäre eine Übergangszeit von einem Jahr angemessen?

Lammert Wenn es eine Einigung im Grundsatz gibt, wird man sich sicher auch auf den angemessenen Zeitraum verständigen können.

Deutschland hat auch die internationale Antikorruptionsrichtlinie immer noch nicht umgesetzt.

Lammert Das ist ein Defizit, das ich schon seit Jahren anmahne. Ich habe den Fraktionen daher jetzt auf entsprechende Nachfragen einen konkreten Regelungsvorschlag zugeleitet.

Die haben dazu eine Anhörung gemacht und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass alles sehr kompliziert sei.

Lammert Zweifellos. Daraus folgt für mich aber nicht, dass das Thema deshalb unlösbar sei. Es ist kompliziert, aber regelungsbedürftig und mit gutem Willen auch regelungsfähig.

Braucht die Europäische Union eine Verständigung über ihre Grenzen?

Lammert Es ist doch offenkundig, dass Europa Grenzen hat, sonst liefe die EU auf eine Miniaturausgabe der Vereinten Nationen hinaus. Da es eine zwingende geografische Grenze nicht gibt, bleibt die Frage nach den Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft. Mein Eindruck ist, dass wir nach dem Beitritt Kroatiens eine Konsolidierungsphase brauchen. Bislang war der Ehrgeiz der Gemeinschaft, sich zu erweitern, ausgeprägter als der Ehrgeiz, die aufgelaufenen offenen Fragen der eigenen Handlungs- und Funktionsfähigkeit überzeugend zu lösen.

Gibt es wirklich keine geografische Grenze? Wie wäre es im Süden mit dem Mittelmeer?

Lammert Auch das ist keineswegs unumstritten Wenn die Gemeinschaft sich entschlösse, die Türkei als Mitglied aufzunehmen, wäre historisch, politisch, kulturell und ökonomisch schwer begründbar, warum die nordafrikanischen Staaten nicht dazu gehören können. Marokko hat schon vor Jahrzehnten einen Beitrittsantrag zur Europäischen Gemeinschaft gestellt.

Braucht Europa also mehr Disziplin, um eines Tages weiter wachsen zu können?

Lammert Ganz offensichtlich. Jedenfalls sind die allermeisten Probleme, mit denen wir uns derzeit beschäftigen müssen, nicht wie Naturkatastrophen über die Mitgliedsstaaten gefallen, sondern sie stehen in einem engen Zusammenhang damit, wie großzügig sie mit selbst gesetzten Regeln umgehen.

Die Finanzkrise ist also ein hausgemachtes Problem?

Lammert Nicht alles ist selbst gemacht, aber die Staatsverschuldung ist eine wesentliche Ursache für die Turbulenzen, die wir ohne Beseitigung dieser Ursachen auch nicht in den Griff bekommen.

Sie wollen also mehr Aufsicht, mehr Kontrolle. Kann und darf der Bundestag denn solche Zuständigkeiten aus der Hand geben?

Lammert Das muss er auch nicht. Der Bundestag hat die Schuldenbremse doch selbst verfassungsrechtlich verankert, bevor sie in der EU Vertragsgrundlage wurde. Der Fiskalpakt ist von fast allen EU-Staaten und ausnahmslos allen Euro-Ländern beschlossen worden. Jetzt muss darauf geachtet werden, dass die zulässige Verschuldung nationaler Haushalte auch so eingehalten wird, wie es die Parlamente selbst festgelegt haben. Deshalb erschließt sich mir die Kritik nicht, hier solle nationale Souveränität eingeschränkt werden.

Das hat in der Vergangenheit nicht funktioniert.

Lammert Weil es außer der Erklärung guter Absichten weder wirksame Kontroll- noch Sanktionsmechanismen gegeben hat. Beide sind aber offenkundig nach den Erfahrungen der Vergangenheit dringend erforderlich, um die Disziplin im System sicherstellen, ohne die es seine Funktionsfähigkeit nicht erhalten kann.

Wo wird dieser Mechanismus anzusiedeln sein?

Lammert Wie der Finanzminister werbe ich dafür, die Kontrolle der nationalen Haushaltsentwürfe einem EU-Kommissar zu übertragen. Der erhält damit natürlich nicht die Zuständigkeit für die Haushaltspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber er prüft die Frage, ob sich der beabsichtigte Haushalt eines Landes im Rahmen seiner eigenen vertraglichen Verpflichtungen befindet. Diese Kontrolle ist nicht nur erlaubt und vereinbart, sie ist auch offenkundig zwingend erforderlich. Das nationale Parlament hat dann die Möglichkeit, auf Beanstandungen des Kommissars zu reagieren. Wenn es dann trotzdem seine Verpflichtungen nicht einhält, muss der Kommissar von seiner Kompetenz Gebrauch machen und Sanktionen verhängen.

Wir sind als EU-Bürger alle Friedensnobelpreisträger geworden. Braucht dieses Projekt eine andere Perspektive als die Frage, ob es ein drittes Griechenland-Hilfspaket geben kann?

Lammert Ganz sicher leidet die Attraktivität der europäischen Idee unter der Dominanz der Finanzfragen. Aber umgekehrt wäre es töricht, den aktuellen Problemen auszuweichen. Wir müssen sie lösen. Und zwar zügig und solide. Aber wir sollten dabei der Versuchung widerstehen, den Euro für Europa zu halten.

Lässt sich Europa attraktiver machen, wenn politische Konzepte europaweit auf Personen verdichtet werden, die im Wettstreit stehen, wie bei der Bundestagswahl? Sollten also irgendwann einmal Francois Holland für die Linken und Angela Merkel für die Christdemokraten und Konservativen in Europa gegeneinander antreten?

Lammert Mir gefällt, dass in allen politischen Lagern ernsthaft diskutiert wird, in die Europawahlen mit einer anderen Formation als bisher zu gehen. Ich begrüße es sehr, den Wählerinnen und Wählern mit Blick auf die dann zu bestellende EU-Kommission Personalangebote zu machen, die über die nationalen Grenzen hinausweisen. Das halte ich für die richtige Entwicklung und deshalb unterstütze ich das. Wir sollten aber keine Illusionen pflegen. Dies alleine wird nicht zu einer oft vermissten europäischen Öffentlichkeit führen. Allein der Umstand, dass über 20 verschiedene Sprachen gesprochen werden, steht einem solchen Wahlkampf im Wege.

Sind Sie zufrieden mit dem neuen Wahlrecht?

Lammert Ich hätte mir gewünscht, dass wir eine Lösung gefunden hätten, die nicht das Risiko einer deutlichen Vergrößerung des Bundestages in sich birgt. Aber im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes konnte schwerlich ein anderes Ergebnis zustande kommen. Wir hätten auch bei zusätzlichen Mandaten zwar immer noch ein Parlament, dessen Größe im Vergleich zu anderen Ländern gut vertretbar wäre. Aber bei einer spürbaren Erweiterung ist es doch wahrscheinlich, dass wir unmittelbar nach der Wahl eine neue Debatte bekommen.

Müssen Sie dann für die Abgeordnetenbüros noch einmal anbauen?

Lammert Jedenfalls haben alle gewählten Abgeordneten Anspruch auf angemessene Arbeitsbedingungen.

Und haben Sie im Plenarsaal genügend Platz?

Lammert Ganz gewiss; schließlich finden doch auch Bundesversammlungen mit weit über tausend Wahlfrauen und Wahlmännern statt.

Was halten Sie von einer verfassungsrechtlichen Klarstellung des Wahlrechtes?

Lammert In dieser Legislaturperiode wird es dazu gewiss nicht kommen. Je nach Größe des Bundestages nach den nächsten Wahlen wird das jedoch ein Thema werden. Für mich ist es nicht unproblematisch, dass wir in der Verfassung inzwischen manche zweit- oder drittrangigen Fragen geregelt haben, während eine für das politische System so herausragende Frage wie das Wahlsystem nicht in der Verfassung geregelt ist. Deshalb kommen mir auch manche Empfehlungen des Verfassungsgerichtes ein bisschen erstaunlich vor, weil es für sie zweifellos beachtliche Argumente gibt, die sich aber nicht in der Verfassung finden.

(-may)
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