Günther Oettinger im Interview „Europa ist Deutschlands Schutzschild gegen Trump“

Berlin · Für Günther Oettinger ist der US-Präsident ebenso abschreckend wie Putin. Der EU-Haushaltskommissar spricht im Interview über die Gründe, warum Europa für jeden Sicherheit bedeutet und die Bundesregierung nicht zerbrechen sollte.

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger Foto: dpa

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Foto: picture alliance / Sophia Kembow/Sophia Kembowski

Herr Oettinger, es können sich nicht wirklich viele Menschen für das Projekt Europa erwärmen. Was sagen Sie ihnen, warum es sich auch für sie lohnt, am 26. Mai zur Europawahl zu gehen?

Oettinger Die Wähler, die Parteien und die Medien müssen eine Europawahl so wichtig nehmen wie eine Bundestagswahl. Nicht mehr und nicht weniger. Zweite Antwort: Beim drohenden Handelsstreit mit den USA und der politisch instabilen Lage in unserer unmittelbaren Nachbarschaft dürften immer mehr begreifen, dass die Europäische Union für ihre Zukunft, ihren Arbeitsplatz, ihre Sicherheit und die ihrer Kinder eine entscheidende Rolle spielt.

Interessanterweise nehmen die Jüngeren Europa als Selbstverständlichkeit hin und halten die Wahlen nicht für so wichtig.

Oettinger Die jungen Leuten sehen schon auch, was es bedeuten kann, wenn sie nicht wählen. Beispiel: Großbritannien. Die Beteiligung der Erstwähler war beim Referendum über den Ausstieg des Königreichs aus der EU gering. Das haben sie nun als Fehler erkannt. Wir haben viele junge Europäer, die nicht in ihrem eigenen Land studieren. Für mich war nach dem Abitur die Frage: Heimspiel in Tübingen oder Auswärtsspiel Heidelberg. Heute studieren die jungen Leute in Budapest, Innsbruck, Grenoble. Ich bin optimistisch. Ich glaube, die Wahlbeteiligung wird höher als das letzte Mal sein.

Warum?

Oettinger Am Ende hilft ein Brexit, es helfen abschreckende Beispiele wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei oder Wladimir Putin in Russland oder auch die Unberechenbarkeit eines US-Präsidenten wie Donald Trump. Jeder weiß, wir müssen als Europäer gewappnet sein.

Europa als Schutzschirm gegen Trump?

Oettinger Der US-Präsident führt einen Technologiekrieg mit China und trägt einen Handelsstreit aus. Außerdem macht er mit Währungsfragen Politik. Am 18. Mai wird er entscheiden, ob er Strafzölle auf Premium-Autos verhängt. Das geht gegen Deutschland. Und der Schutzschild Deutschlands ist der europäische Binnenmarkt. Wenn man gegen die Deutschen Strafzölle erhebt, schlagen die Europäer zurück. Dann haben die Amerikaner Probleme, in den europäischen Binnenmarkt mit 510 Millionen Menschen zu kommen. Das überlegt sich Donald Trump dreimal. Deutschland allein im Wind – das wäre etwas ganz Anderes. Das schätzen die Deutschen aber oft zu gering.

Wie schwer wiegt für die Europäische Volkspartei das Zerwürfnis mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz und deren derzeitiger Ausschluss aus der EVP?

Oettinger Wenn Fidesz nach der Wahl zur EVP-Fraktion gehören will, dann gilt das Wahlprogramm. Ich kenne Viktor Orbán recht gut. Historisch gesehen gehört Fidesz zu keiner anderen Partei als zur EVP. Helmut Kohl hat den jungen Orbán zur EVP gebracht. Es gibt Anzeichen, dass Ungarn einen proeuropäischen Kopf in die Kommission schicken will. Das wäre ein Signal, dass Orbán in der Mitte Europas bleiben will.

Was, wenn nicht?

Oettinger Hinzu kommt: Mercedes Benz/Daimler verdoppelt jetzt durch ein neues Werk seine Produktionskapazitäten für Autos in Ungarn. Die deutsche und französische Industrie ist stark in Ungarn engagiert. Wenn das Land mit Orbán und Fidesz an den rechten Rand rückt, werden die Investoren ausbleiben. Ich glaube, dass er mit dem Populismus spielt, sich aber nicht mit Italiens Innenminister Matteo Salvini und der französischen Rechtsextremen Marine Le Pen verbünden wird. Die Gemeinsamkeiten wären auch gering. Le Pen will Europa auflösen, Orbán braucht den europäischen Binnenmarkt.

Wie groß sind die Chancen für den CSU-Politiker Manfred Weber, EU-Kommissionspräsident zu werden? Es heißt in Berlin oft, er habe nicht die besten Karten?

Oettinger Die EVP hat ihn mit großer Mehrheit in Helsinki zum Spitzenkandidaten nominiert. Es kann ihm und uns gelingen, die Mehrheit im nächsten EU-Parlament und den Europäischen Rat von seiner Wahl zum Kommissionschef zu überzeugen. Seine Chancen stehen gut, einen Automatismus gibt es natürlich nicht.

Gehören Sie zu den Verfechtern, dass nur ein Spitzenkandidat Kommissionschef werden kann?

Oettinger Ja, es sollte den Bürgern vor der Wahl klar sein, wer sich um den Posten des Kommissionschefs bewirbt. Bei der Bundestagswahl ist auch glasklar, wer Kanzler oder Kanzlerin werden will. Politik wird durch Menschen verkörpert. In einer komplexen Welt wählt man primär die Person, der man vertraut. Angela Merkel wurde gewählt, weil sie gesagt hat „Sie kennen mich“. Ist doch klar. Gerhard Schröder wurde gewählt, weil er ein Typ ist – trotz seiner Basta-Politik.

Was fällt Ihnen zu Manfred Weber ein?

Oettinger Er ist ein aufgeklärter, liberaler, sympathischer und toleranter Bayer. Viele Länder mögen und vertrauen ihm. Ich sehe keinen anderen, der ein stärkeres Zugpferd geworden wäre. Die EVP hat keinen Zweifel an ihm. Er kann es.

Manfred Weber spricht von einem „Ärgernis für viele Menschen" und meint das Dauerpendeln des Europaparlaments zwischen Brüssel und Straßburg. Ist ein Verzicht auf Straßburg denkbar?

Oettinger Bei dem Thema bin ich anderer Meinung. Zur EU-Gründungsgeschichte gehört auch die Verkörperung Europas durch das EU-Parlament in Straßburg. Darauf wird ein französischer Präsident nie verzichten. Und es geht nur einstimmig. Deutschland sitzt übrigens im Glashaus mit seinen beiden Regierungsstandorten Bonn und Berlin.

In Deutschland wird der Klimaschutz inzwischen genauso als umwälzendes Thema wahrgenommen wie die Digitalisierung. Die große Koalition eilt diesem Trend in Deutschland hinterher. Wird das Thema in Europa angemessen behandelt?

Oettinger Eindeutig ja. Bei der großen UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen gab es kein Mandat für Europa, während China, die USA und andere entschieden haben: Wir machen gar nichts. Bei der Klimakonferenz in Paris 2015 sah es anders aus. Dort haben sich die Europäer mit ihren Vorschlägen weitgehend durchgesetzt. Europa war wahrnehmbar und einig. Im EU-Haushalt, der durchschnittlich pro Jahr 160 Milliarden Euro umfasst, muss im nächsten Jahrzehnt im Durchschnitt aller Programme jeder vierte Euro für den Klimaschutz ausgegeben werden.

Wie groß ist die Enttäuschung in Europa, dass Deutschland noch nicht einmal seine selbstgesteckten Ziele zur CO2-Reduktion erreicht?

Oettinger Klimaschutz und CO2-Reduktion sind immer stärker eine europäische Aufgabe. 50 Prozent der Emissionen sind Teil des Zertifikatehandels.

Die Preise waren bislang so niedrig, dass das nicht viel gebracht hat.

Oettinger Wir haben bereits die Mengen reduziert und der Preis ist vom Tiefstand drei in 2013 auf 22 bis 25 Euro gegenwärtig pro Tonne CO2 gestiegen. Das System funktioniert an der Börse. Derzeit werden Jahr für Jahr die Emissionsmengen um 1,74 Prozent reduziert, von 2021 an wird die jährliche Reduktion 2,2 Prozent betragen. Durch dieses System von Angebot und Nachfrage ist es garantiert, dass die gesteckten Ziele zur Reduktion von CO2 erreicht werden. Diese Ziele erreichen auch die Deutschen. Sie schaffen nur die Ziele nicht, die sie sich darüber hinaus gesteckt haben. Klüger wäre es, wenn sich Deutschland auf die europäischen Ziele konzentrieren und nicht an nationalen Ergänzungen herumdoktern würde. In den Bereichen, in denen es keinen Zertifikatehandel gibt wie Landwirtschaft, Verkehr und Gebäude wird die EU auch tätig. Es wurde eine CO2-Reduktion für Lkw und Busse eingeführt. Bei Pkw geht es um eine abgasärmere Flotte. Wenn die Deutschen diese Ziele verfehlen sollten, müssen sie Strafe zahlen.

Wie wichtig wird die deutsche Kanzlerin für die Besetzung der EU-Spitzenposten nach der Wahl sein?

Oettinger Sie hat ein hohes Ansehen im Europäischen Rat und in der europäischen Öffentlichkeit. Sie ist die Dienstälteste und kommt aus dem größten Land, deshalb hat ihre Mitwirkung ein sehr hohes Gewicht. Nach der Wahl hat sie eine wichtige Aufgabe. Uns steht ein kompletter Wechsel der ersten Reihe bevor: Kommissionspräsident, Präsident des Europäischen Rates, Außenbeauftragter Parlamentspräsident, EZB-Präsident. Dafür müssen wir West- und Ost, Nord- und Süd, Frauen und Männer einbeziehen, EVP, S&D, Alde und Macronisten. Für diese fünf Spitzenposten sollte mehr als eine Frau gefunden werden. Es sollten mindestens zwei Frauen sein. Merkel hat die Aufgabe, die Besetzung dieser zentralen Posten zu moderieren, in Kenntnis der deutschen Interessen und aller anderen Nationen der EU.

Sollte Friedrich Merz in der CDU eine stärkere Rolle bekommen?

Oettinger Er ist als führender Christdemokrat sichtbar.

Vize-Chef des CDU-Wirtschaftsrats ist kein sehr herausgehobenes Amt.

Oettinger Er ist sichtbar und er hat mit der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer ein gutes Verhältnis. Seine Stimme wird gehört.

Wäre er der bessere Kanzlerkandidat?

Oettinger Nein. Ich war für ihn als Parteivorsitzenden. Ich war nicht gegen AKK. Ich kenne ihn seit Anfang der 80er Jahre. Wir sind Freunde. Ich weiß um seine Kompetenzen für Europa und Wirtschaft. AKK ist eine logische Kandidatin für die Nachfolge von Frau Merkel. Wie es am Ende laufen wird, weiß keiner. Ich fände es gut, wenn Friedrich Merz seine Kompetenz in die Zukunft der CDU einbringen würde.

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Foto: RP/Ferl, Martin

Hält die Bundesregierung bis 2021?

Oettinger Ich weiß, dass CDU und CSU sie fortsetzen wollen. Ich hoffe, dass auch die SPD die Kraft dazu hat. Brüssel baut auf eine intakte, stabile deutsche Regierung. Das gilt vor allem mit Blick auf die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020.

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