Essay Mehr Liberalismus wagen

Düsseldorf · Weltweit ist die Demokratie wieder auf dem Rückzug, und hierzulande wird wieder gern in Kollektiven gedacht: wir gegen die. Beides ist ein Verrat an unseren Traditionen. Ein Plädoyer für eine alte, aber sehr aktuelle Tugend.

 John Stuart Mill war einer der Vordenker des Liberalismus.

John Stuart Mill war einer der Vordenker des Liberalismus.

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Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal“ – diesen schönen, wenn auch auf den ersten Blick unsinnigen Satz verdanken wir Loriot. Er ließ ihn 1977 den fiktiven FDP-Politiker Claus-Hinrich Wöllner sagen. Wöllner sagt den Satz, den er offenbar sehr mag, dreimal, und sonst nichts von Belang.

Das Schöne an dem Spruch ist nicht nur seine Absurdität, sondern auch, paradox genug, bei Loriot allerdings nicht weiter verwunderlich, dass er gar nicht ausschließlich Quatsch ist. Aber es ist ja so: Eine liberale Weltsicht erschöpft sich nicht in liberaler Parteipolitik. Dieser Text ist deswegen keine Aufforderung, die FDP zu wählen. Er ist auch keine Aufforderung, die FDP nicht zu wählen. Er ist ein Plädoyer für mehr Liberalismus in der Politik.

Die Encyclopædia Britannica definiert Liberalismus als „politische Doktrin, die den Schutz und die Erweiterung der Freiheit des Einzelnen für das zentrale Problem der Politik hält“. Der Liberalismus kreist um das Individuum. Damit ist er mindestens so sehr Politiktechnik wie -inhalt, ähnlich wie der Populismus, dessen Gegenteil der Liberalismus ist. Wie es rechte und linke Populisten gibt, gibt es liberale Konservative und Sozialdemokraten. Man kann aber kein liberaler Kommunist sein und kein liberaler Nationalist, denn dem Liberalismus widerspricht das Denken in Kollektiven, ohne das Kommunisten und Nationalisten nicht auskommen.

Gedanklicher Kollektivismus greift derzeit wieder Raum – Zuwanderer hier, Alteingesessene da, Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund, die Deutschtürken und die anderen, die Rechten und die Linken, die Rassisten und die Gutmenschen, Amerika zuerst, dann der Rest der Welt. Hier wir, da die.

Der klassische Liberalismus trat an, den Untertan gegen den Staat zu verteidigen und aus ihm einen Bürger zu machen. Der Wirtschaftsliberalismus trägt das Banner des Freihandels und des Privateigentums. Heute, da die liberale Demokratie weltweit wieder auf dem Rückzug ist, ist ein intellektueller Liberalismus nötiger denn je: gegen die verführerische Enge des geistigen Kollektivismus. Es braucht so viel Differenzierung wie möglich, Entschlossenheit zur schwierigen Lösung statt zum gedanklichen Kurzschluss. Das sind liberale Tugenden und zugleich rote Tücher für Demagogen aller Couleur.

Vor 25 Jahren, nach dem Kollaps des Kommunismus in Europa, sah es kurz so aus, als sei ein Zielzustand erreicht. „Das Ende der Geschichte“ rief gar der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama aus – weil der Liberalismus vor dem Sieg stehe. Es kam anders. Dass der Liberalismus unangefochten sei, kann heute auch der größte Optimist nicht behaupten.

Zwar hat sich eine Art sozialliberales Modell durchgesetzt, das die Freiheit nicht nur von der Verteidigung gegen den Staat erwartet, sondern auch vom Staat selbst: Denn wer arm ist, ist unfrei. Dass dann der Staat gefragt ist, ist zumindest in Europa weitgehend Konsens. Ob maximale politische Freiheit des Einzelnen wünschenswert sei – das ist selbst in Europa längst nicht mehr so klar. Viktor Orbán in Ungarn etwa hat die Stirn, sein Gesellschaftsmodell „illiberale Demokratie“ zu nennen.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass sich nun ausgerechnet Fukuyama mit Bemerkenswertem meldet. Menschenrechtsverletzungen etwa in muslimischen Ländern dürfe man nicht nach dem Motto „Andere Kulturen, andere Sitten“ hinnehmen, sagte Fukuyama kürzlich der „Neuen Zürcher Zeitung“. Noch problematischer sei die Identitätspolitik, die Ethnie, Geschlecht oder Religion in den Mittelpunkt stelle: „Statt die Leute aus ihren Gemeinschaften zu befreien, führt diese Politik dazu, sie auf ihre Zugehörigkeiten festzulegen. Das ist das Gegenteil von Selbstbestimmung.“ Heißt: Wer die Lage bestimmter Gruppen verbessern will, sollte das besser nicht unter Berufung auf Kollektive tun, denn das wäre, liberal gesagt, ein Widerspruch in sich.

Was heißt das nun politisch? Etwa in der Bildung? Da wird niemand staatliche Eingriffe grundsätzlich ablehnen: Förderung in Kitas und Grundschulen, um die Chancen etwa von Kindern aus Migranten- und Nichtakademikerfamilien zu verbessern. Stiftungen, die diesen Kindern später an die Uni helfen sollen, sind dagegen im liberalen Sinne Krücken – Identitätspolitik im Reparaturmodus. Wer den individualistischen Anspruch hochhält, wird sich auch schwertun, eine allgemeine Dienstpflicht zu begründen. Der soziale Zusammenhalt bröckelt, mag sein; aber Zwang als Gegenmittel? Eher nicht.

Oder bei der Integration: Die Özil-Affäre hat gezeigt, wie komplex die Identität vieler türkischstämmiger Menschen in Deutschland ist. Die Frage nach ihrer Zugehörigkeit, ob nun Fußball-Nationalspieler oder nicht, dürfte so viele Antworten kennen wie Befragte. Daraus Politik abzuleiten, ist anstrengend und konfliktträchtig. Sich auf die Position „Wir sind halt so, die sind halt so, passt eben nicht“ zurückzuziehen, hat jedoch mit Liberalismus wenig zu tun. Denn es verrät einen Grundsatz der Aufklärung: das alte Gerechtigkeitsmotto „Jedem das Seine“, das die Nazis dann zynisch gegen ihre Opfer wendeten, am Tor von Buchenwald.

Allem Individualismus zum Trotz braucht es natürlich verbindliche Vorgaben: Gesetze. Sie schützen die Freiheit aller, der Frauen, der Rentner, der Homosexuellen, der Christen, der Atheisten, aber auch der Nazis, der Linksextremen und der Islamisten. Man darf diesen Staat ablehnen, man darf aber seine Ordnung nicht bekämpfen. Denn für Demokrat(i)en muss gelten, was der Sozialdemokrat und Hamburger Olaf Scholz über sich selbst feststellte: Sie sind „liberal, aber nicht doof“. Extremisten und Demokratieverächter wollen uns einreden, liberal und doof sei dasselbe. Von wegen. Illiberal und doof, das ist dasselbe. Liberal, aber nicht doof zu sein, ist möglich. Es ist eine demokratische Kardinaltugend. Man muss heute leider wieder daran erinnern.

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