Essay Unsere Leitkultur ist die Freiheit

Düsseldorf · Millionen machen sich von weither auf den Weg, um in den offenen Gesellschaften des Westens Schutz zu suchen. Offenbar haben Demokratie, Freiheit und Gleichheit eine hohe Anziehungskraft. Aber verteidigen wir diese Werte gebührend?

 Das Brandenburger Tor im vereinten Berlin: Symbol deutscher Freiheit.

Das Brandenburger Tor im vereinten Berlin: Symbol deutscher Freiheit.

Foto: dpa, flk fpt sab

Der erste Bundespräsident, Theodor "Papa" Heuss (1949—1959), stellte seine Amtszeit unter das Bibelwort "Gerechtigkeit erhöht ein Volk". Gerechtigkeit als Leitmotiv staatlichen Handelns — das war 1949 auch die bewusste Abkehr der jungen Republik von Willkürherrschaft und Barbarei während der Nazijahre.

Eben diese zwölf Jahre des größten anzunehmenden Unfalls in der tausendjährigen Geschichte der Deutschen lassen noch heute viele aufschrecken, wenn zum Beispiel in der aktuellen Zuwanderungsdebatte von den Neuankömmlingen gefordert wird, sie mögen die "deutsche Leitkultur" respektieren, am besten: verinnerlichen. Das Wort Kultur wird bei uns reichlich inflationär verwendet, meist als Wortbestandteil: Hochkultur, Popkultur, Willkommenskultur, Wohnkultur. Dabei mag sich ein jeder denken, was er will. Die Frage bleibt: Was denken die hier Lebenden mit und ohne Migrationsgeschichte über deutsche Leitkultur? Hat ein Land, das nun massiv von Einwanderern fremder Kulturen aufgesucht wird, überhaupt ein Recht, hergebrachte Werte für verbindlich zu erklären? Das hat es umso mehr, je stärker es sich selbst dieser Werte bewusst ist und sie im Alltag lebt. Konkrete Frage: Vertreten wir Deutsche eigentlich selbstbewusst den Wertekanon des Grundgesetzes oder die christlich-abendländischen Traditionen und Errungenschaften?

Vorsicht vor allzu schnellem Ja! Klagen über Parallelgesellschaften in Großstädten hört man nicht nur aus Großbritannien oder Frankreich, sondern auch aus Berlin, Bremen, Duisburg. Die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig, die 2010 den Freitod wählte, schrieb desillusioniert über sich breitmachende arabische Zuwanderer-Clans, die weder deutsches Recht noch deutsche Rechtsvertreter, schon gar nicht solche weiblichen Geschlechts respektieren, ja die ihre feindliche Gesinnung gegenüber den Werten ihrer neuen Heimat offen bekunden.

Der britische Premierminister David Cameron initiierte 2014 eine Debatte über "British Values", britische Werte. Vorausgegangen waren haarsträubende Berichte über muslimisch dominierte Schulen, etwa in Birmingham, in denen antichristliche Lieder einstudiert oder Weihnachts-Tombolas als "unislamisch" abgeschafft wurden. Sind das die Boten unserer "Unterwerfung", die der französische Autor Michel Houellebecq zum Großthema seines Bestsellers machte? Auch wir Deutsche kennen verstörende Beispiele aus Kindergärten, Schulen, Haftanstalten, wo sich hergebrachte, christlich grundierte Sitten und Gebräuche in Frage stellen lassen müssen, weil sie angeblich ein harmonisches, multikulturelles Miteinander stören. Der stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden Julia Klöckner, die im März Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz werden möchte, verweigerte neulich ein offenbar integrationsunwilliger islamischer Geistlicher den Handschlag, weil er einer Frau grundsätzlich nicht die Hand reicht. Ist der Imam bloß ein unaufgeklärter Simpel ohne Anstand oder womöglich doch ein Trojanisches Pferd, das sich listig Einlass erschleicht im fremden Kulturkreis, um danach dessen Gepflogenheiten und verfassungsrechtlich gestützte Gleichberechtigungs-Pflichten zu untergraben?

Julia Klöckner sagt in ihrem neuen Interview-Buch "Zutrauen — Ideen statt Ideologien" im Kapitel "Werte und Wandel": "Ich glaube, in bestimmten Schlüsselfragen brauchen wir ein Bekenntnis zur Unbedingtheit, die aus dem christlichen Menschenbild resultiert. Es duldet keine Relativierung." Wer die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern offen missachtet, ist ein Verfassungsfeind. Und er ist hier in Deutschland fehl am Platz.

Die pragmatischen Briten sind mittlerweile bereit, Zwangsverheiratungen mit bis zu sieben Jahren Gefängnis zu bestrafen. Das ist trefflicher Ausdruck gelebter Leitkultur. Zugegeben: Mancher, der auf Straßen und Plätzen "Deutsche Leitkultur" ruft oder plärrt, ist ein verkappter Rassist, ideologisch ähnlich vernagelt wie ein muslimischer Fanatiker, der sich quer zum Grundgesetz und zur Menschenrechtskonvention stellt.

Vielleicht sollte man, wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert bereits 2006 angeregt hat, auch weniger von deutscher, vielmehr von europäischer Leitkultur sprechen. Demokratie, Freiheit, Gleichheit vor dem Recht — das sind schließlich universelle Werte. Gerade weil in Deutschland und Europa das Christliche verdunstet, christliche Wurzeln verdorren, braucht es mehr als nur Bekenntnisse zu Toleranz, Vielfalt und einer "Bunten Republik". Das ist Allerweltsrhetorik, wie sie Claudia Roth von den Grünen als Hohepriesterin der Multikulti-Bewegung beherrscht.

Einleuchtender erscheint es, die 2000 durch den damaligen CDU/CSU-Fraktionschef Friedrich Merz angezettelte Debatte über Leitkultur, also über das, was uns als Deutsche und Europäer im Innersten zusammenhält, erneut und intensiv zu führen. Eine Nation und ein Kontinent wie Europa benötigen ein gemeinsames Fundament an Werten und Überzeugungen. Auch bei den grundlegenden, den leitenden Werten gilt der alte Goethe: "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen."

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(mic)
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