Was Thilo Sarrazin schreibt "Erziehung ähnelt Hunde-Dressur"

Berlin/Recklinghausen (RP). Kindergartenpflicht ab dem dritten Lebensjahr, wenig Freizeit im Elternhaus, Ganztagsschule und Uniformen, Geldstrafen für Fehlstunden ohne Rücksicht auf das Existenzminimum – das sind die Rezepte aus Sarrazins umstrittenem Buch für das deutsche Bildungssystem. Die Regeln menschlicher Erziehung seien nicht viel anders als bei Pferd oder Hund.

Presse: Sarrazin hat es geschafft
Infos

Presse: Sarrazin hat es geschafft

Infos
Foto: ddp

Berlin/Recklinghausen (RP). Kindergartenpflicht ab dem dritten Lebensjahr, wenig Freizeit im Elternhaus, Ganztagsschule und Uniformen, Geldstrafen für Fehlstunden ohne Rücksicht auf das Existenzminimum — das sind die Rezepte aus Sarrazins umstrittenem Buch für das deutsche Bildungssystem. Die Regeln menschlicher Erziehung seien nicht viel anders als bei Pferd oder Hund.

Als 13-jähriger Schüler war der junge Thilo Sarrazin ein renitentes Bürschchen. Er wollte schon gern Latein lernen, er wollte auch jeden Tag eine Seite Vokabeln lernen, nur tat er es trotz aller Ermahnungen von Eltern und Lehrern nicht. Und am Ende blieb er sitzen, mit einer Fünf in Latein. Das sei ihm eine Lehre gewesen, schreibt Sarrazin: "Bei mir hat die Sanktion und die Furcht, es nicht zu schaffen, gewirkt (sie wirkt übrigens bis heute) und die weitere Bildungslaufbahn befördert." Unter anderem aus dieser Erfahrung leitet Sarrazin seine Vorstellungen ab, wie das deutsche Bildungssystem endlich zu sanieren sei.

In Sarrazins umstrittenem Buch "Deutschland schafft sich ab" soll das Kapitel "Bildung und Gerechtigkeit" über den Unterschied von "gut und gut gemeint" aufklären. Oder wie Sarrazin fragt: Hätten Goethe und Humboldt "dieselben schöpferischen Leistungen erbracht, wenn sie auf einer integrierten Gesamtschule in Rüsselsheim oder Duisburg unterrichtet worden wären?"

Aus Sarrazins Sicht gibt es keinen großen Unterschied zwischen dem Abrichten eines Tieres und der Erziehung eines Kindes: "Jeder Jäger weiß von seinem Hund und jeder Reiter von seinem Pferd, dass er seinem tierischen Freund, der seine Führung erwartet, nichts abfordern kann, wenn er ihm keine Zuwendung zuteil werden lässt. Er weiß aber auch, dass sich das Pferd nicht von selber dressiert und der Hund nicht von alleine apportiert. Viel anders sind die Regeln nicht, die in der menschlichen Erziehung gelten."

Gleich nach der Geburt sollen Mütter Tipps zur Vermeidung von Übergewicht (wohlgemerkt: des Babys) und über die "Nichteignung des Fernsehers als Babysitter" bekommen. Später soll ein Krippenbesuch empfohlen werden und ab dem dritten, spätestens vierten Lebensjahr der Kita-Besuch verpflichtend sein, möglichst ganztags. Spielen, Singen und Vorlesen sollen das Programm bestimmen.

Fernsehen und moderne Medien solle es in Kitas nicht geben, so Sarrazin. Die gab es bei ihm auch nicht: "Die Familie besaß kein Radio, geschweige denn einen Fernseher, aber ein vom Schreiner gefertigtes Bücherregal, das im Wohnzimmer unmittelbar neben dem Kohleofen stand und 1953, daran erinnere ich mich noch, aufgestockt wurde. Der keimende Wohlstand der frühen Wirtschaftswunderjahre zeigte sich bei uns zu Hause in einer wachsenden Sammlung von Klassikerausgaben", schreibt Sarrazin über sein Recklinghausener Elternhaus. Vom ersten Schuljahr an soll die Schule als Ganztagsschule geführt werden, Fernsehen und Computerspiele gibt es auch dort nicht, nach der Hausaufgabenbetreuung wird Sport getrieben.

Zumindest für die größeren Kinder soll die Ganztagsschule so aufgebaut sein, "dass sie zu Hause neben dem Wochenende nur den Feierabend verbringen". Dies sei die beste Methode, so Sarrazin, "jenes Übermaß an Medienkonsum zu begrenzen, das für zusätzliche Benachteiligungen der Kinder aus bildungsfernen Schichten sorgt".

In Sarrazins Bildungskanon ist das erste Ziel: "Ein Kind, das nicht an Schwachsinn leidet, muss unter allen Umständen bis Ende des zweiten Schuljahrs fließend lesen können, es sollte bis Ende des vierten Schuljahrs eine einwandfreie Rechtschreibung sowie die vier Grundrechenarten beherrschen. Damit verglichen ist es völlig gleichgültig, ob es ein paar Brocken Englisch kann oder nicht."

So war es schließlich beim kleinen Thilo auch: "Als ich im Februar 1955 die Aufnahmeprüfung am Gymnasium Petrinum in meiner Heimatstadt Recklinghausen ablegte, konnte ich fließend lesen (und zwar in höherem Lesetempo als heute), hatte eine vollständig sichere Rechtschreibung, konnte schriftlich dividieren und multiplizieren, kannte die gesamte biblische Geschichte rauf und runter und hatte im regionalen Umfeld erdkundliches und historisches Orientierungswissen."

Würde der heutige Hauptschulabschluss nach zehnjähriger Schullaufbahn das Grundschulwissen des Jahres 1955 sicherstellen, "wäre man heute bildungspolitisch und in Bezug auf die Qualifikation für den Arbeitsmarkt wesentlich weiter". Stattdessen sei das Niveau der Grundschulbücher gesenkt und ihr Bildanteil erhöht worden.

Gelernt wird in der Sarrazin-Schule in Uniform, die verpflichtend sein soll. Das löse für "weniger Bemittelte das Textilproblem", außerdem erleichtere es den Kindern die Orientierung durch eine klare Abgrenzung des schulischen vom privaten Bereich. Besonderer Wert wird an der Sarrazin-Schule auf Pünktlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit gelegt.

Und: "Schulschwänzen wird nicht geduldet. Über jedes unentschuldigte Fehlen wird exakt Buch geführt. Die Eltern werden für jede unentschuldigte Fehlzeit mit empfindlichen Geldbußen belegt." Und zwar auch dann, wenn durch die Verrechnung der Geldbuße mit Transferleistungen (also Hartz IV) "das sozioökonomische Existenzminimum unterschritten wird".

Sanktion, Furcht und die Hundeschule als Erziehungsmodell klingen weniger nach einem fortschrittlichen Bildungsmodell als nach Sarrazins Kindheitserfahrung. Als der kleine Thilo 1955 in Recklinghausen auf das Gymnasium Petrinum geschickt wurde, hatte er die Grundschule mit 50 Kindern in einer Klasse absolviert. Ein älterer Lehrer habe sie mit eiserner Disziplin geführt, so Sarrazin. Von 50 Kindern in Sarrazins Klasse durften ganze vier die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium ablegen.

Drei schafften es, darunter der kleine Thilo. "Beim Diktat fiel durch, wer mehr als drei Fehler hatte. Interpunktionsfehler galten als volle Fehler, das wurde uns vor dem Diktat mitgeteilt." Dann der Schock auf dem Petrinum: "Wir waren wiederum fünfzig Kinder, die der Klassenlehrer damit tröstete, dass es beim Abitur nur noch zwanzig sein würden, was dann zehn Jahre später auch genau so eintraf."

Gestört habe ihn daran nur eins: Er gehörte plötzlich nicht mehr zu den Besten. "Diese narzisstische Kränkung, die sich mit meinem Selbstbild nicht vertrug, wirkte noch viele Jahre nach."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort