Sehenswerter Film heute in der ARD Darum lohnt sich der Lamby-Film „Ernstfall - Regieren am Limit“
Berlin · Seit zwei Jahren regiert die Ampel-Koalition. Die Zeit ist überschattet vom russischen Angriff auf die Ukraine und von den weitreichenden Folgen. Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat einen Film über das Regieren in Krisenzeiten gedreht. Warum sich das Einschalten lohnt.
Eine blonde Frau steht an einer Tür des Zugs nach Kiew. Sie hält ein Bild mit der deutschen Flagge in der Hand und weist dem Bundeskanzler den Weg in seinen Waggon. Olaf Scholz, der damalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reisen im Juni 2022 von Polen aus mit dem Zug in die ukrainische Hauptstadt. Scholz hatte mit einem Besuch in Kiew lange gezögert, schließlich reiste er mit europäischen Partnern. Es wird eine Reise sein, die Spuren beim SPD-Politiker hinterlassen wird.
Mit im Zug dabei sind auch der Filmemacher Stephan Lamby und sein Team. Er dreht dann, wenn die anderen Scheinwerfer erloschen sind und kommt den politischen Akteuren der Regierung sehr nah. Der Journalist dreht eine Langzeitbeobachtung über knapp zwei Jahre hinweg und zeigt eine Regierung am Limit – in Zeiten des Krieges in Europa.
Lamby ist Dokumentarfilmer, ist seit vielen Jahren mit politischen Themen beschäftigt, beobachtete im Wahlkampf die drei Kanzlerkandidaten Scholz, Annalena Baerbock (Grüne) und Armin Laschet (CDU). Regelmäßig veröffentlicht er über seine Recherchen auch Bücher. Der Dokumentarfilm „Ernstfall – Regieren am Limit“ wird am Montag, den 11. September, ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen sein. Lamby blickt hinter die Kulissen der Regierung, auch in dramatischen Situationen. Seine Gesprächspartner sprechen ungewöhnlich offen über ihre Motive – und Gefühle.
Der Film sollte eigentlich ein Film über die Ampel-Regierung werden, über die Koalition aus SPD, Grünen und FDP und ihren Aufbruch in ein Deutschland, das die Transformation und somit die Bekämpfung der Klimakrise wuppt. Auch Corona spielte zu Beginn der Dreharbeiten noch eine zentrale Rolle. Die FFP2-Maske ist auf allen Bildern zu Beginn der Dokumentation noch zu sehen.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar veränderte sich die Lage grundlegend. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht“, beschrieb es die Außenministerin Baerbock am Morgen danach. Das galt für die ganze Welt - und eben auch für die frisch ins Amt gewählte deutsche Regierung. Lamby passte seinen Film also an, es wurde eine Dokumentation über das Regieren in Zeiten des Krieges. Es ist ein Report aus dem Inneren der Macht geworden, der parallel zum Film auch als Buch erschienen ist (siehe unten). Der Film kommt ohne Kommentar aus, der Autor lässt vor allem Bundeskanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Außenministerin Baerbock, aber auch zahlreiche politische Beobachter zu Wort kommen. Die Opposition kommt allerdings nicht vor. Von Lamby selbst sind Interviews mit verschiedenen Politikern zu sehen.
Besonders auf den Tag der Zeitenwende-Rede am Sonntag, den 27. Februar 2022, legt Lamby Wert. An diesem Tag versetzte der russische Präsident Wladimir Putin russische „Abschreckungskräfte“ in Alarmbereitschaft, darunter auch Atomwaffen. Lamby interviewt auf der Fraktionsebene des Bundestages Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD), einen der engsten Vertrauten des Kanzlers. Auch er hat gerade erst die Eilmeldungen gelesen. Ihm ist das Entsetzen über diese Nachricht im Gesicht abzulesen.
Kurz darauf wird der Kanzler mit Zustimmung der Opposition 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr ankündigen. Am Tag zuvor hatte die Regierung die deutsche Zurückhaltung bei Waffenlieferungen aufgegeben. Lamby vermerkt dazu: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Bundesrepublik so umfangreich und offen Waffen an eine kriegführende Nation geliefert. Aber in diesen Tagen und Stunden ist mehr in Bewegung geraten, viel mehr.(...) An diesem letzten Samstag im Februar beschließen Olaf Scholz und einige wenige Vertraute, dass Deutschland auf der Weltbühne der Militärmächte künftig keine Nebenrolle mehr spielen soll, sondern eine Hauptrolle.“
Mit den Folgen dieser Entscheidung beschäftigt sich der Film dann in den restlichen sechzig Minuten. Wie kann die Regierung die Ukraine unterstützen, ohne selbst zur Kriegspartei zu werden? Wie kann sie die Energieversorgung Deutschlands sicherstellen? Wie bekommt sie die Inflation in den Griff?
Wirtschaftsminister Habeck ist die zentrale Figur des Films, er kommt sehr häufig zu Wort, äußert sich offen auch über die Misserfolge seiner Politik. Lamby beschreibt ihn in seinem Buch so: „Robert Habeck bekommt den Druck zu spüren wie kein Zweiter. Der Mann, der so souverän, fast fröhlich im vergangenen Dezember mit der Regierungsarbeit begann, sieht jetzt immer häufiger unausgeschlafen, fahrig und dünnhäutig aus. Die massive Kritik und auch das Wissen um die eigenen Fehler nagt an ihm.“ Wohlgemerkt - das war nach der Gasumlage und vor dem Ärger um das Heizungsgesetz und seinen Staatssekretär Patrick Graichen.
Außenministerin Baerbock wird im Laufe des Films gefragt, ob sie Mitleid mit Habeck hat. Und ob sie etwas bereut aus den ersten Wochen nach Ausbruch des Krieges. Die Antwort lässt Interpretationen zu. Mitleid sei eine falsche Kategorie, sagt sie. Und ja, man hätte schneller nach Kiew fahren sollen. Lamby selbst zieht am Ende seines Buches ein hoffnungsfrohes Fazit: „Während ich an diesem Buch gearbeitet habe, habe ich viele schreckliche, beängstigende Momente erlebt. Aber es gab auch diesen einen bewegenden und hoffnungsvollen Januarsonntag in Paris. In einem Festsaal der Universität Sorbonne kamen Regierungsmitglieder und Parlamentarier aus Deutschland und Frankreich zusammen. Einige reichten sich die Hand, andere umarmten sich. Sie vertraten zwei Völker, die immer wieder erbittert Krieg gegeneinander geführt haben. Jetzt feierten sie ihre Freundschaft. Sie haben aus der Geschichte gelernt.“
(Buch: Stephan Lamby, Ernstfall - Regierung in Zeiten des Krieges), 400 Seiten, 26.90 Euro, ISBN 9783406807763)