Interview mit Entwicklungsminister Gerd Müller „Afrika ist die Jahrhundertaufgabe für die EU“

Berlin · Bundesentwicklungsminister Gerd Müller spricht im Interview über Transitzentren nahe den Herkunftsländern von Flüchtlingen, Afrika als Chancenkontinent für Europa und den „Masterplan Migration“ von Horst Seehofer.

 Entwicklungsminister Gerd Müller (Archiv).

Entwicklungsminister Gerd Müller (Archiv).

Foto: Kay Nietfeld/dpa/Kay Nietfeld

An der Wand hängen gemalte Heimatimpressionen, auf dem Tisch steht fair gehandelter Kaffee, auf dem Dach sorgt eine Solaranlage für eine bessere Klimabilanz. So präsentiert der CSU-Politiker Gerd Müller (62) am liebsten sein Bundesministerium. Doch bei der Vorstellung des von ihm mit entworfenen „Masterplans Migration“ war er nicht dabei.

Herr Müller, hätten Sie den „Masterplan“ gerne zusammen mit Innenminister Horst Seehofer vorgestellt, wie ursprünglich geplant?

Müller Ich stehe voll hinter dem „Masterplan“ von Horst Seehofer. Wir haben das erste Kapitel gemeinsam erarbeitet. Wir sind beide der Meinung, dass man vor allem dort ansetzen muss, wo die Flüchtlinge herkommen, nämlich in den Krisen- und Kriegsgebieten.

War es denn nötig, wegen täglich fünf Zurückweisungen an der deutsch-österreichischen Grenze die Regierung fast vor die Wand zu fahren?

Müller Die Debatte hat viel bewegt. Sie war die Grundlage für die jetzt stattfindenden Verhandlungen mit Österreich und anderen Ländern.

Vieles war durch die bayerische Landtagswahl motiviert. Ist die Strategie richtig, die AfD-Sprüche zu kopieren?

 Bundesentwicklungsminister Gerd Müller

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller

Foto: imago/Jens Schicke/Jens Schicke

Müller Das tun wir ja nicht. Uns treibt vielmehr an, wie wir sehr reale Probleme lösen können. Deshalb werden wir den „Masterplan“ jetzt auch Schritt für Schritt umsetzen. So unterstützen wir beispielsweise mit unserem Programm „Perspektive Heimat“ die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen aus Deutschland. Mossul ist jetzt genau ein Jahr vom IS-Terror befreit. Auch mit unserer Hilfe konnten bereits Hunderttausende Iraker in die zerstörte Stadt zurückkehren. Daher ist auch eine Rückkehr irakischer Flüchtlinge aus Deutschland möglich. Den Rückkehrern bieten wir an, sie in unsere Aufbau- und Qualifizierungsprogramme vor Ort zu integrieren oder bei der Existenzgründung zu unterstützen. Denn niemand soll als Verlierer zurückkehren müssen.

Wann kommen die „sicheren Orte“ außerhalb Europas?

Müller Wir haben schon Transitzentren zum Beispiel im Niger. Ich habe das Durchgangslager für Subsahara-Flüchtlinge besucht. Genau dort müssen wir ansetzen und Migranten über den verhängnisvollen Weg nach Europa aufklären. Es sterben dreimal mehr Flüchtlinge auf dem Marsch durch die Wüste als im Mittelmeer. Davor muss man Hunderttausende bewahren, indem wir sie in den Herkunftsländern informieren und in Zukunftsperspektiven investieren. Zudem brauchen wir eine europäische Initiative zum Beenden der Konflikte. Denn rund 50 Prozent der Flüchtlinge kommen aus nur fünf Kriegs- und Krisenländern.

Was ist mit den Hauptherkunftsländern in Afrika?

Müller Aus Afrika kommen 25 Prozent der Flüchtlinge in Europa. In der Hauptsache aus Nigeria, Eritrea und Somalia. Mit Partnern wie Frankreich und Großbritannien will ich in diesen Ländern vor Ort noch stärker aktiv werden, für stabile Verhältnisse in den Ländern sorgen und vor Illusionen über Europa warnen.

Welchen Part soll die Europäische Union dabei haben?

Müller Afrika ist die Jahrhundert­aufgabe für die Europäische Union. Auf dem Treffen der EU-Entwicklungsminister Ende Mai habe ich deswegen konkrete Vorschläge eingebracht: Wir brauchen einen EU-Afrikakommissar, bei dem alle Fäden einer in sich stimmigen Afrikapolitik zusammenlaufen. Wir brauchen zudem einen ständigen EU-Afrika-Rat. Es reicht nicht aus, alle zwei Jahre einen EU-Afrika-Gipfel zu haben. Wir brauchen permanente Arbeitsstrukturen, um die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs umzusetzen. Eine solche neue Partnerschaft muss auch finanziell besser ausgestattet werden. Der EU-Haushalt muss endlich neue Prioritäten setzen, statt an den Vorstellungen der 80er Jahre festzuhalten. Von 2021 bis 2027 will die EU für Afrika 39 Milliarden Euro ausgeben. Das ist ein Zehntel dessen, was für die Agrarpolitik vorgesehen ist und ein Beleg dafür, wie wenig wir Afrika als Chancenkontinent wahrnehmen. Im Gegensatz zu China und Russland. Sie investieren massiv und sichern sich knappe Rohstoffe wie Coltan und Lithium für die Digital- und Elektroindustrie. Europa ist gerade dabei, Afrika als Jahrhundertchance zu verpassen.

Was macht Ihnen im Moment am meisten Sorge?

Müller Der vergessene Krieg im Jemen. Die Unicef-Chefin berichtete mir, dass zehn Millionen Kinder ums Überleben kämpfen. Dort ist die Cholera ausgebrochen. Alle zehn Minuten stirbt ein Kind. Einfachste Medikamente könnten diese Kinder retten. Es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft ihnen beim Sterben zuschaut, denn nicht einmal die Hälfte des erforderlichen Hilfsbedarfs ist aktuell gedeckt. Deutschland leistet hier bereits viel. Wir haben unsere Unterstützung für Unicef im Jemen um weitere 15 Millionen Euro erhöht. Aber auch hier fehlt die Stimme Europas völlig. So wie bei den 300.000 Flüchtlingen an der jordanisch-israelischen Grenze, die vor dem Bombenterror in Syrien geflohen sind und jetzt in der Wüste ohne Wasser und Nahrung ausharren. Wer kümmert sich um sie? Die Weltgemeinschaft muss jetzt handeln.

Die Nato will mehr Geld in die Verteidigung stecken. Ist das richtig?

Müller Meine Botschaft an die Nato ist: Parallel zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben müssen wir auch die Ausgaben für Entwicklung und Prävention erhöhen.

Auf dem Mittelmeer geraten die Seenotretter selbst unter Druck. Wie sehen Sie das?

Müller Die EU muss sich viel stärker darum kümmern. Wir sollten nicht darauf warten, bis es zur Katastrophe kommt.

Der „Masterplan“ will Rücknahmebereitschaft von Flüchtlingen mit Entwicklungshilfe verknüpfen. Das war bisher nicht Ihre Linie.

Müller Natürlich müssen die Länder kooperieren, das war auch immer meine Linie. Bei all unseren Gesprächen mit den Partnerländern ist das Thema. Der „Masterplan“ sieht verschiedene Maßnahmen vor, die Rückübernahme zu verbessern. Das kann auch eine Verstärkung der Zusammenarbeit sein, wenn Staaten kooperieren.

Einige fordern aber, wer nicht ausreichend kooperiert, muss auf Geld verzichten.

Müller Entwicklungsprogramme zu kürzen, ist kontraproduktiv und vergrößert Fluchtursachen. Denn wir treffen damit nicht die Regierungen, sondern Hunderttausende von Menschen, denen wir eine Perspektive in ihrer Heimat bieten. Im irakischen Mossul haben wir beispielsweise die Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung für Zehntausende Menschen und 180 Schulen für mehr als 100.000 Kinder aufgebaut. Wenn wir solche Programme kürzen, bewirken wir das Gegenteil und haben hier bald sehr viel mehr Flüchtlinge.

Viele Binnenflüchtlinge sind schon in ihre Heimat in Syrien zurückgekehrt. Wann wird es Zeit, Syrien ins Rückkehrprogramm aufzunehmen?

Müller Die Weltgemeinschaft muss den Krieg stoppen. Die EU muss die Gestaltung einer Nachkriegsordnung glaubhaft angehen. Der Beschluss, syrische Flüchtlinge zu enteignen, muss zurückgenommen werden. Das sind zentrale Voraussetzungen für die Rückkehr von Millionen syrischer Flüchtlinge. Es reicht nicht, darauf zu warten, was Wladimir Putin macht.

Gregor Mayntz führte das Gespräch.

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