Unterwegs beim Niedersachsen-Krimi Ein Wechselbad der Gefühle

Hannover · Im Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Niedersachsen-Wahl hatten nur die Liberalen Grund zu ungetrübter Freude. Es wurde ein langer Abend.

Niedersachsen: Jubel und Schrecken auf den Wahlpartys
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Niedersachsen: Jubel und Schrecken auf den Wahlpartys

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Das einstmals kurfürstlich-königliche Leineschloss in Hannover, das seit 1962 Sitz des niedersächsischen Landtages ist, war Kloster, Herrscher-Residenz, Armenhaus, Regierungssitz, Kaserne, Museum — Sonntagabend wurde es zu einem Siegestempel für die FDP und zu einer Wart-Burg für Schwarz-Gelb und Rot-Grün, welche lange Zeit nie recht wussten, welches der beiden Lager einen ohnehin nur hauchdünnen (so viel stand schnell fest) Vorsprung zum Regieren haben würde. Die niedersächsischen Wähler machten es diesmal so spannend wie kaum je zuvor.

Und rappelvoll war es in der guten hannoverschen Parlamentsstube, über die ein Historiker schrieb, es gebe keine Stätte in Hannover, deren Boden derart in Erinnerungen und Überlieferungen an die letzten drei Jahrhunderte der Landesgeschichte getränkt wäre. Hier im Leineschloss schlage seit Generationen in guten und in bösen Tagen das Herz des Landes.

Rein politisch gesehen war es ein guter Tag für Philipp Rösler und die Liberalen. Und ein böser eigentlich nur für Piraten und Linkspartei, die nicht in den Landtag gewählt wurden, was in den Räumen des hohen Hauses niemanden übermäßig interessierte. Anderes dafür umso mehr, beispielsweise ob David McAllister von der CDU Ministerpräsident bleiben oder doch Stephan Weil, Noch-OB von Hannover, die SPD wieder an die Regierung bringen kann.

Fast 2000 Anträge auf Akkreditierung zum Wahlabend waren bei der Landtags-Verwaltung eingegangen, darunter von mehr als 1200 Medienvertretern aus Deutschland und der weiten Welt. Erstmals hatten sich chinesische Journalisten für eine Landtagswahl in Niedersachsen angemeldet, Presseleute aus Anatolien waren ebenso zugegen wie das Schweizerische Fernsehen. Ministerpräsident David McAllister hatte kurz vor dem Wahltag schmunzelnd und ein bisschen stolz berichtet, er habe soeben zum ersten Mal dem arabischen Sender Al Jazirah ein Interview gegeben.

Rückblende auf den Wahlabend im März 1998, als es im Landtag zu Hannover ähnlich rappelvoll, wenn auch nicht so international, aber genauso spannend war wie gestern: Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) lag mit seinem Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine im Clinch um die Kanzlerkandidatur der SPD für die Bundestagswahl im darauf folgenden September. Nachdem Schröder für heutige sozialdemokratische Verhältnisse sagenhafte 47,9 Prozent erreicht hatte, war eine schwelende bundespolitische Frage — wer tritt im Herbst 1998 gegen Kanzler Kohl in den Ring? — landespolitisch entschieden. Legendär ist Lafontaines telefonisch nach Hannover übermitteltes "Ich ergebe mich": "Glückwunsch, Kandidat!" Der Rest ist bekannt: Schröder wurde Kanzlerkandidat und Kanzler.

Und Sonntagabend? Viele "Weißt-du-noch"-Geschichten bestimmten die nervös diskutierenden Runden, die sich um die Nachmittagszeit noch mit Kaffee und Tee stärkten, bevor Stunden später, Schlag 18 Uhr, die erlösenden, ernüchternden, Fragen aufwerfenden Wahlausgangs-Prognosen bekanntgegeben wurden. Anschließend flossen andere Getränke — ob zum Feiern oder zum sich Grausen — die Kehlen hinunter. Bei der FDP herrschte Partylaune, eine Prosecco-Flasche nach der anderen wurde geöffnet, die Käse-Trauben-Picker waren schnell und freudig vertilgt. Da mochte Grünen-Spitzenkandidat Stefan Wenzel noch so ätzen über die "künstlich aufgeblasene FDP, die wie ein kompetenzfreier Luftballon daherkommt": Die Gelben feierten. Hätten freie Tische im Raum gestanden, sie hätten darauf getanzt.

CDU-Generalsekretär Ulf Thiele schluckte ein paar Mal, bevor er das glänzende Abschneiden des Koalitionspartners und das schlechte Ergebnis für seine Partei kommentierte: Klar sei, dass in den letzten Wahlkampf-Wochen CDU-Sympathisanten nur eine Frage beschäftigt habe: Kommt die FDP wieder rein ins Parlament, auf dass McAllister Regierungschef bleiben kann? Der alte niedersächsische SPD-Haudegen Wolfgang Jüttner berichtete so verwirrt wie feixend, dass sogar ein CDU-Landtagsabgeordneter öffentlich eine Wahlempfehlung für die FDP abgegeben habe.
Noch-CDU-Finanzminister Hartmut Möllring will schon vor Weihnachten davor gewarnt haben, die FDP könnte am Ende zweistellig abschneiden und zwar zu Lasten der Union. So in etwa ist es dann ja auch gekommen. CDU-Fraktionschef Björn Thümler verzog sein Gesicht und meinte, Gelassenheit signalisierend: "CDU und FDP, wir sind eben eine Gemeinschaft, jetzt müssen wir das Beste draus machen."

Ein älterer Christdemokrat aus dem ländlichen Raum brummte mürrisch dazwischen: "Werden wir nun regieren oder nicht?" Justizminister Bernd Busemann sprach süffisant von seiner "dezenten Freude", die er empfinde; es tue ihm ein wenig weh, dass gar so viele CDU-Anhänger als taktische Wähler diesmal der FDP Rettungsstimmen gegeben hätten. Die alte Metzger-Frage schwebte im Raum, nur anders herum: "Durfte es (an Leihstimmen für die Liberalen) nicht ein bisschen weniger sein?" Doch dann zuckte Busemann mit den Schultern: "Was soll's ,wenn das Team CDU und FDP am Ende des Tages gesiegt hat, tut mir das gut."

SPD-Herausforderer Stephan Weil tat der Wahlabend insgesamt gut. Viel früher als McAllister ging Weil zu den Seinen und ließ sich mit langem Applaus feiern. Der Mann, von dem Parteifreundin und Ex-Kanzler-Ehefrau Doris Schröder-Köpf sagte, sie würde ihm Brieftasche und Kinder anvertrauen, blieb seriös: Es gebe zwei Sieger: die Demokratie und Philipp Rösler von der FDP. Am Ende eines fair geführten Wahlkampfes sei die Wahlbeteiligung höher als vor fünf Jahren. Alle Parteien, denen er für die Fairness Respekt zolle, hätten so der Demokratie einen Dienst erwiesen. Im Übrigen sei es viel zu früh, sich heute Abend als Sieger oder Verlierer zu fühlen; nur Rösler habe erstaunlicherweise gesiegt.

Als Weil sprach, hörte man 30 Meter entfernt bei der CDU Rufe im Stakkato-Stil: "Da-vid, Da-vid." Aber David kam nicht, jemand vom McAllister-Fanclub "I'm a Mac" hatte wohl Fehlalarm ausgelöst. "Mac" wollte erst aus dem Büro treten, wenn sich die Hochrechnungs-Nebel über dieser langen Wahlnacht auflösten, etwas lichteten. Der niedersächsische SPD-Promi Hubertus Heil mahnte unterdessen auf allen Landtagfluren im Sinne von "Abwarten und Tee trinken." Teetrinker jedoch sah man nirgendwo mehr. Längst waren die von überhitzten Räumen, stickiger Raumluft, unglaublichem Gedränge Gepeinigten zu kühlen Getränken mit Alkohol gewechselt. "Nervennahrung" meinte der CDUler Otto Stumpf, auf sein frisch gezapftes Bier deuten.

(pst)
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