Sozialdemokraten diskutieren über „Zeitenwende“ Nachdenkliche Töne in der SPD-Bundestagsfraktion

Berlin · Vor einem Jahr überfiel Russland die Ukraine, der Krieg dauert an. Vor einem Jahr hielt Kanzler Olaf Scholz seine „Zeitenwende“-Rede im Bundestag, um weitreichende Maßnahmen als Reaktion auf den „Zivilisationsbruch“ anzukündigen. An diesem Montagabend diskutierte die SPD-Fraktion über Erfahrungen im vergangenen Jahr – und über Perspektiven für ein mögliches Ende des Krieges.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs, bei seiner Regierungserklärung, mit der Scholz die „Zeitenwende“ ausrief.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am 27. Februar 2022, drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs, bei seiner Regierungserklärung, mit der Scholz die „Zeitenwende“ ausrief.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Otto Wels ist ein sozialdemokratischer Held. Er bot 1933 Adolf Hitler die Stirn, sprach in der Debatte um das Ermächtigungsgesetz die letzten freien Worte im deutschen Parlament, danach hatten die Nazis freie Hand. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“, sagte er damals. In dem nach Otto Wels benannten Saal im Reichstagsgebäude ist die SPD-Bundestagsfraktion zu Hause. An diesem Montagabend ist der Saal voll. Nicht nur mit Abgeordneten, das Publikum ist bunt gemischt. Es geht um ein Jahr Krieg, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende des Kalten Kriegs nach Europa zurückgekehrt ist. Es geht um ein Jahr „Zeitenwende“, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 ausgerufen hatte – drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. Der Überfall dauert noch immer an und mit ihm der Abwehrkampf der Ukrainer, unterstützt von Deutschland und anderen westlichen Verbündeten.

Und so soll an diesem Abend ein Ukrainer das erste Wort haben, obwohl er nicht im Otto-Wels-Saal sein kann. Serhij Schadan ist Autor und Musiker, erhielt für sein Buch „Himmel über Charkiw“ den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. „Freunde vergesst nicht, dies ist ein Vernichtungskrieg und und wir haben nicht das Recht, ihn zu verlieren. Wir müssen ihn gewinnen“, heißt es in einer von der Moderatorin vorgelesenen Passage.

Danach wählt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der lange einer der führenden Außenpolitiker der SPD war, nachdenkliche Worte. Er sehe derzeit keinen Raum für Verhandlungen mit Russlands Präsident Wladimir Putin über ein Ende des Ukraine-Kriegs. Putin wolle nicht verhandeln, sagt Mützenich. Er halte aber Diplomatie „für keinen Fehler“, um auf Staaten wie China oder Indien zuzugehen, die Russlands Angriffskrieg bisher nicht verurteilt hätten. Denn diese könnten später helfen, den „Pfad zu Verhandlungen zu weisen“, wenn der Krieg „nicht auf dem Schlachtfeld entschieden wird“. Damit schenkt er einerseits Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) indirekt einen ein, deren Engagement er für zu gering hält im Umgang mit den genannten Staaten, und lobt zugleich den Kanzler, der beide Länder schon besucht hat – im Fall Chinas entgegen einiger Ratschläge aus dem Auswärtigen Amt.

Mützenich räumt aber auch eigene Fehler und Versäumnisse bei der Einschätzung Russlands ein. Zugleich sei er aber „manchmal irritiert“, wenn einige in der Öffentlichkeit jetzt sagten, eigentlich hätten „sie alles schon gewusst“. Als Sozialdemokrat wolle er dazu auch feststellen: „Die Entspannungspolitik trägt nicht die Verantwortung für den Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine. Dies hat alleine Präsident Putin zu verantworten.“

Kurz nach Mützenichs Worten treten Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und Entwicklungsministerin Svenja Schulze (beide SPD) nach vorn. Pistorius betont, dass Deutschland 30 Jahre lang gut gelebt habe „von der Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges. „Das war berechtigt, das war richtig und das war gut.“ Nun müsse die Politik die schmerzliche Erfahrung machen, dass auch massive Sanktionen Putin nicht dazu brächten, den Krieg zu beenden. Dies zeige, dass sich Autokraten nicht unter Kontrolle bringen ließen, „wenn man nicht gleichzeitig Abschreckung gewährleistet“.

Im Osten Europas herrsche nun „die nackte Angst“, dass Russland auch dort angreifen könne, sagt Pistorius und sieht die bessere Ausrüstung der Bundeswehr auch als Pflichterfüllung mit Blick auf die Nato-Partner. Deutschland habe derzeit „keine Streitkräfte die verteidigungsfähig sind (...) gegenüber einem offensiven, brutal geführten Angriffskrieg“. Deshalb müsse Deutschland „leider wieder viel Geld für Waffen ausgeben“. Pistorius sagt das mit echtem Bedauern, das ist ihm anzumerken. Auch als Verteidigungsminister fallen ihm Forderungen nach einem massiven Mittelaufwuchs für Waffen nicht leicht.

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) pocht im Gespräch darauf, die Länder des globalen Südens nicht zu vergessen, die etwa bei der Nahrungsmittelversorgung unter den Folgen des Krieges litten. Hier gebe es „die große Befürchtung“, dass Deutschland in seiner Hilfe nachlasse, sagt sie. Deshalb werde auch dort „ganz besonders“ auf die laufenden Haushaltsverhandlungen in Berlin und die dabei vereinbarten Prioritäten geblickt. Der Abend im Fraktionssaal ist auch ein Abbild des aktuellen Ampel-Streits ums Geld.

Als später der SPD-Linke Ralf Stegner und der Militärexperte Carlo Masala einen seltenen Moment der Einigkeit teilen (Diplomatie und militärisches Handeln müssen einhergehen), ist der Abend bereits weit fortgeschritten. Am Ende wird deutlich: Putins Angriffskrieg hat bereits vielen Menschen die Freiheit oder gar das Leben gekostet. Die Ehre wird der russische Aggressor der Ukraine jedoch nicht nehmen können.

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