Ein Jahr nach Hanau „Die Gefahren sind nach wie vor sehr hoch“

Der Vizevorsitzende der Bundes-CDU und baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl sorgt sich ein Jahr nach dem Anschlag von Hanau um Bedrohungen durch den bewaffneten Rechtsextremismus und sieht das Zusammengehen von „Querdenkern“, Reichsbürgern und Radikalen als „hochtoxische Mischung“.

 CDU-Minister Thomas Strobl.   Foto: dpa

CDU-Minister Thomas Strobl. Foto: dpa

Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Was haben Sie empfunden, als Sie vor einem Jahr die Nachrichten aus Hanau hörten?

Strobl Das war ein grausames und feiges Verbrechen. Meine Gedanken waren und sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Und ich hoffte, dass die Verletzten möglichst schnell wieder an Körper und Seele gesund werden.

Es war nicht das erste rechtsextremistische Verbrechen, wie denken Sie nach einem Jahr darüber?

Strobl Der Anschlag von Hanau hat uns die Gefahr politisch motivierter Gewalttaten deutlich vor Augen geführt. Daran hat sich seither nichts geändert. Die Gefahren sind nach wie vor sehr hoch. Deshalb ist und bleibt es unser oberstes Ziel, Anschläge zu verhindern. Gewalt jeglicher Art ist inakzeptabel und darf bei uns keinen Platz haben.

Welche Konsequenzen hat der Staat aus den Anschlägen gezogen?

Strobl Wir haben die Kompetenz und die Entschlossenheit, um Extremismus, Hass, Ausgrenzung und Gewalt mit allen Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen und die offene und demokratische Gesellschaft zu schützen. In Baden-Württemberg haben wir bereits im Dezember 2019 mit dem Sonderprogramm „Rechtsextremismus“ unsere Polizei und unseren Verfassungsschutz nachhaltig gestärkt.

Es gab bei der Tat von Hanau einige unerklärliche Umstände. Warum hatte der Täter trotz Polizeiauffälligkeit einen Waffenschein und was folgt daraus?

Strobl Hier gibt es eine traurige Wahrheit, die mich schmerzt, die ich aber offen sagen muss: Es wird uns nicht gelingen, jedes schlimme Verbrechen zu verhindern. Insbesondere gilt das für Einzeltäter, die wenig oder gar nicht mit anderen kommunizieren.

Muss man bei den Waffenschein-Inhabern noch mal genauer hinschauen?

Strobl Unbedingt! Waffen gehören nicht in die Hände von Extremisten. Seit ich Innenminister bin, haben wir in Baden-Württemberg Extremisten Hunderte von Waffen weggenommen. Ich bin zudem dankbar, dass die Innenministerkonferenz sich auf meine Initiative sehr intensiv damit beschäftigt hat, dass Waffen auch nicht in die Hände von psychisch auffälligen Personen gehören.

Eine weitere Auffälligkeit war die Teilnahme des späteren Täters an einem Schieß- und Gefechtstraining. Müssen die Behörden darauf besser achten?

Strobl Wir müssen auch den Kenntnisstand unserer Sicherheitsbehörden optimieren. Durch die Digitalisierung der Gesellschaft haben sich Extremismusbereiche zunehmend ins Internet verlagert. Das Netz ist zur Echokammer für Verschwörungsmythen und diffuse rechtsextremistische und nationalistische Weltanschauungen geworden. Es gibt die virtuelle Vernetzung von Extremisten. Man kann heute Rechtsextremist sein, ohne jemals anderen Rechtsextremisten von Angesicht zu Angesicht begegnet zu sein.

Rechtsterroristische Netzwerke mit Verbindungen nach Deutschland sind jüngst auch in Österreich und Skandinavien aufgedeckt worden. Hat sich da unter der Oberfläche etwas hochgradig Gefährliches entwickelt?

Strobl Das macht mir sehr große Sorgen. Die Selbstradikalisierung von Einzelpersonen im Netz ist für die Sicherheitsbehörden ein großes Problem. Da findet sehr vieles virtuell statt. An die „einsamen Wölfe“ ist sehr schwer ranzukommen. Was da an Vernetzungen geschieht, läuft über Hass und Hetze. Umso wichtiger ist, dass wir das entschieden bekämpfen.

Das für die Hatespeech-Bekämpfung wichtige Bestandsdatenauskunftsgesetz ist erst letzte Woche im Bundesrat gescheitert.

Strobl Ich bedauere das sehr. FDP und Grüne sind offenbar nicht bereit, diese Dinge konsequent zu verfolgen.

Sollte es einen neuen Anlauf im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat geben?

Strobl Unbedingt. Das Verhalten von FDP und Grünen war von einer besonderen Verantwortungslosigkeit geprägt. Sie haben ein Gesetz scheitern lassen, das zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasstiraden im Netz dringend nötig gewesen wäre. Wir brauchen jetzt ein schnelles Vermittlungsverfahren. Ich hoffe, dass FDP und Grüne nicht nur davon reden, den Rechtsextremismus bekämpfen zu wollen. Sie müssen es auch tun, statt ideologisch verbrämt zu verhindern, dass Justiz und Sicherheitsbehörden die Instrumente bekommen, die sie dringend benötigen.

Wir haben ein neues Phänomen auf den Straßen: Rechtsextremisten finden zusammen mit Esoterikern, Verschwörungsmythikern und „Querdenkern“. Was entsteht da?

Strobl Hier amalgamiert eine hochtoxische Mischung. Seit Beginn der Querdenken-Demonstrationen nimmt unser Verfassungsschutz die Versuche von Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Selbstverwaltern wahr, Einfluss auf das Demonstrationsgeschehen gegen die Corona-Beschränkungen zu gewinnen. Unter den führenden Initiatoren der „Querdenken“-Veranstaltungen und in deren Umfeld sind Personen tätig, die dem Verfassungsschutz als Extremisten bekannt sind. Das führt dazu, dass sich die Initiativen mehr und mehr radikalisieren, mehr und mehr in Richtung Demokratie- und Staatsfeindlichkeit entwickeln. Die Ideologie der Reichsbürger wird immer mehr zum zentralen Punkt.

Wie ist darauf zu reagieren?

Strobl Das Landesamt für Verfassungsschutz hat zu recht „Querdenken 711“ und seine regionalen Ableger in Baden-Württemberg zum Beobachtungsobjekt erhoben. Hier muss das Frühwarnsystem in unserem freiheitlich-demokratischen Staat anschlagen. Wir müssen über diese Leute und ihre Ziele so viel wie möglich wissen und mit allen Mitteln des Rechtsstaates in Erfahrung bringen.

Sie sind an der Quelle der „Querdenken-Bewegung“. Diese hat sich aber über das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet – ist das Vorgehen in Stuttgart eine Empfehlung für die anderen Länder und den Bund?

Strobl Ich habe keine Empfehlungen zu geben, zumal sich die Lage von Land zu Land unterschiedlich darstellen kann. Es muss daher in jedem Land der Verfassungsschutz entscheiden, wie er damit umgeht. Klar ist: Die “Querdenken-Bewegung“ ist in Baden-Württemberg entstanden, und bei uns ist nach wie vor der Nukleus, der in die ganze Republik einwirkt.

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