Herr Minister, Sie machen Tempo bei der Digitalisierung. Was hat der Patient vom E-Rezept?
Bundesgesundheitsminister Was hat der Patient vom E-Rezept, Herr Lauterbach?
Interview | Berlin · Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist Deutschland ein Entwicklungsland, sagt der Bundesgesundheitsminister. Das will er ändern. Denn steigende Beiträge treiben ihn um – ebenso die Cannabis-Freigabe und die Knappheit von Medikamenten.
Lauterbach Sichere Verordnungen, weniger Zettelwirtschaft, mehr Komfort. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber Deutschland ist bei der Digitalisierung, auch im Gesundheitssektor, ein Entwicklungsland…
…auf dem Stand von Rumänien oder Niger?
Lauterbach Ich will hier kein Land nennen, aber in Europa im unteren Drittel. Skandinavien ist uns da weit voraus. Das ist für die viertstärkste Volkswirtschaft der Welt wirklich keine Visitenkarte. Wir reden viel und machen wenig. Wenn wir so weitermachen, werden wir abgehängt. 2003 habe ich im Beraterkreis der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt die elektronische Patientenkarte mit entwickelt. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass 20 Jahre später kaum etwas umgesetzt ist.
Was ist der Vorteil von E-Rezept und elektronischer Patientenakte?
Lauterbach Wer heute zum Arzt geht, dem fehlen in seiner Akte oft alte Laborwerte, Informationen zu verordneten Medikamenten oder alte Befunde. Dies soll alles in der elektronischen Patientenakte gespeichert werden – und zwar sicher. Auch nach Untersuchungen wie Labor oder MRT kommen die neuen Befunde sehr viel schneller zum Patienten oder Hausarzt. Späte Befunde per Fax oder Post braucht man dann nicht mehr. Oft muss der Patient heute um Kopien bitten, damit er überhaupt Befunde hat. Dabei gehören die Befunde dem Patienten. Ab Januar 2025 bekommt jeder Patient in Deutschland automatisch eine elektronische Patientenakte von seiner Krankenkasse, es sei denn, er hat vorher aktiv Widerspruch eingelegt.
Keine Angst vor Hackern?
Lauterbach Die Daten sind nach den höchsten Sicherheitsstandards gespeichert und gesichert. Sollte dennoch ein digitaler Einbrecher Zugriff erlangen, so könnte er höchstens die elektronische Akte jeweils eines einzigen Patienten hacken – und das bräuchte schon hohe kriminelle Energie und sehr großen Aufwand – niemals die elektronischen Patientenakten einer ganzen Krankenkasse oder einer gesamten Arztpraxis. Ich habe eher Angst davor, dass wir in Deutschland der Bevölkerung keine Spitzenmedizin mehr bieten können, wenn wir nicht endlich bei der Digitalisierung aufholen.
Bei E-Rezept gibt es Widerstand unter anderem der Ärzte. Kommt Karl Lauterbach jetzt mit der digitalen Brechstange?
Lauterbach Nach 20 Jahren sollte die Digitalisierung in Deutschland langsam mal greifen. Ich werde das jetzt mit allem Druck voranbringen. Widerstände gibt es immer. Wir haben bislang insgesamt 2,6 Millionen E-Rezepte in Deutschland eingelöst. Ich kann sagen: Es funktioniert. Die Apotheken haben fast flächendeckend die Voraussetzungen dafür geschaffen. Und mit den Digitalgesetzen verpflichten wir die Ärzteschaft jetzt ebenfalls zum Mitmachen.
Wird durch elektronische Patientenakte und Digitalisierung im Gesundheitssektor auch der Forschungsstandort Deutschland gestärkt?
Lauterbach Definitiv. Die Daten, die das Forschungsdatenzentrum dann freigeben soll, sind nicht rückzuverfolgen. Da steht nicht: Heinz Meyer, Krebspatient, dritte Chemotherapie erfolglos. Sondern das sind pseudonymisierte Daten. Das ist wichtig für Deutschland als Forschungsstandort. Wir haben sehr gute Wissenschaftler, aber diese Wissenschaftler verzweifeln, weil sie das nicht haben, was sie für ihre Studien bräuchten: Daten. Bei uns ist die Zahl der Neuzulassungen bei Arzneimitteln gesunken auch die Zahl der neuen Standorte von Pharmakonzerne, an denen entweder geforscht oder produziert wird, fällt im internationalen Vergleich zurück. Das müssen wir ändern. Dem Forschungsstandort Deutschland fehlen die Daten, mit denen man im Ausland arbeiten kann.
Dann sind ihre Pläne aber auch ein Konjunkturprogramm für die Pharmaindustrie - für viele klingt das wenig verheißungsvoll.
Lauterbach Im Gegenteil - das ist eine Verheißung. Durch eine stärkere Pharmaindustrie haben wir mehr gute Produkte. Dazu noch mehr Forschung. Noch in dieser Legislaturperiode wird es Gesetze geben, mit denen wir die Standortbedingungen für die Pharmaforschung und die Produktion in Deutschland deutlich verbessern werden. Außerdem werden Pharmaunternehmen auch nicht einfach auf die Daten zurückgreifen können. Es müssen Forschungsanträge gestellt werden, und wenn die wissenschaftlich relevant sind, dürfen sie die Daten auswerten. Das prüft und entscheidet das Forschungsdatenzentrum.

Von Düren nach Berlin – Das ist Karl Lauterbach
Haben Sie Verständnis dafür, wenn Bürger keine elektronische Patientenakte wollen?
Lauterbach Jeder einzelne muss das für sich entscheiden. Aber ich würde es jedem aus voller Überzeugung empfehlen, die Akte zu nutzen. Durch die elektronische Patientenakte habe ich fast immer einen therapeutischen Gewinn.
Könnte eine Lebensversicherung sagen, wir versichern dich nur, wenn du in deine elektronische Patientenakte Einsicht gewährst?
Lauterbach Das ist ausgeschlossen. Eine Versicherung, die zur Voraussetzung macht, dass die Patientenakte freigegeben wird, hat in Deutschland keine Chance.
Was bedeutet das alles für den enormen Kostendruck im Gesundheitswesen?
Lauterbach So eine Modernisierung ist zunächst nicht gratis. Ich rechne mit Mehrkosten im Jahr 2024 von etwa 200 Millionen Euro und im Jahr 2025 noch einmal von 600 Millionen Euro. Das sind aber Investitionen, die mittelfristig die Kosten im Gesundheitssystem dämpfen, weil etwa Doppel-Untersuchungen, Notfälle im Krankenhaus und Behandlungsabbrüche vermieden werden. Außerdem stärken wir die Vorbeugemedizin.
Stichwort Kosten - wie oft wollen Sie noch an der Beitragsschraube drehen?
Lauterbach Der Beitragssatz zur Gesetzlichen Krankenversicherung wird auch im nächsten Jahr wie bereits angekündigt erneut moderat steigen müssen. Aber wir werden an der Beitragsschraube nicht mehr oft drehen können. Mittelfristig muss der Steuerzuschuss für die Kranken- und Pflegeversicherung erhöht werden. Derzeit gibt es die Möglichkeit nicht, weil Finanzminister Lindner die Schuldenbremse einhalten will. Dafür habe ich volles Verständnis. Das ist der Rahmen, in dem ich arbeite. Umgekehrt erwarte ich aber auch vom Finanzminister, dass er mich meine Arbeit machen lässt.
Eine andere Baustelle bleibt die geplante Freigabe von Cannabis. Wie ist da der Stand der Dinge?
Lauterbach Ich rechne damit, dass die Cannabis-Freigabe nächste Woche ins Kabinett kommt. Es wird noch kleine Änderungen geben…
…welche?
Lauterbach Da müssen Sie die Kabinettsbefassung abwarten. Soviel kann ich aber schon sagen: Wir werden parallel zur Gesetzgebung eine große Kampagne fahren, um auf die Risiken des Cannabis-Konsums hinzuweisen. Cannabis schadet besonders dem noch wachsenden Gehirn. Bis zum 25. Lebensjahr wird das Gehirn noch umgebaut. Wer in dieser Altersphase konsumiert, der schadet sich besonders. Ich will erreichen, dass wir den Cannabis-Konsum bei Jugendlichen zurückdrängen und ihn für die, die konsumieren wollen, sicherer machen.
Gerade Eltern interessiert auch, wie es mit Kindermedikamenten im Herbst und Winter aussieht. Wird es wieder knapp?
Lauterbach Das kann zum jetzigen Zeitpunkt keiner genau prognostizieren. Die politischen Rahmenbedingungen für die Beseitigung der Knappheit haben wir mit dem Arzneimittelgesetz aber gesetzt. Es gibt keine Rabattverträge mehr, keine Festverträge und kein Preismoratorium. Diese Knebel sind weg. Wenn aber in ganz Europa die Medikamente fehlen, werden auch wir betroffen sein.
Es gibt Klagen wegen möglicher Impfschäden. Waren die Impfstoffe nicht so sicher, wie wir alle erhofft haben?
Lauterbach Jedes Einzelschicksal ist bedauerlich. Aber insgesamt sind die Impfstoffe sehr sicher. Sie wurden milliardenfach verabreicht, haben Tod, schwere Krankheit und Long Covid verhindert. Der Nutzen der Impfung ist im Vergleich zu auftretenden Nebenwirkungen riesig.
Bleibt die Frage, wie gesund ist eigentlich der Gesundheitsminister?
Lauterbach. Wann immer es die Zeit erlaubt, spiele ich Tischtennis. Da bin ich auch sehr ehrgeizig. Ansonsten bin ich in Gesundheitsfragen eher ein Wegweiser, der die halbe Strecke mitgeht.
Ruhepuls?
Lauterbach Angemessen. Um die 60.