Debatte um Plagiate Doktortitel auf dem Prüfstand

Berlin · Wieder wird der Dissertation eines Prominenten unterstellt, sie sei ein Plagiat. Diesmal hat es Bundestagspräsident Norbert Lammert getroffen. Hinter der Debatte stehen Werte unserer bürgerlichen Gesellschaft.

Wie redlich und seriös, gewissenhaft und akribisch der geisteswissenschaftliche Betrieb ist, beweist er neuerdings vor allem bei den Überprüfungen jener Doktorarbeiten, denen mangelnde Redlichkeit und Seriosität, Gewissenhaftigkeit und Akribie unterstellt werden.

Der Apparat funktioniert als Reparaturbetrieb; und auf dem Nährboden der Plagiate scheint besonders gut die Debattenkultur zu gedeihen. Wie jetzt im Fall von Bundestagspräsident Norbert Lammert. So exakt dürfte seine Arbeit über "Lokale Organisationsstrukturen innerparteilicher Willensbildung — Fallstudie am Beispiel eines CDU-Kreisverbandes im Ruhrgebiet" in den knapp 40 Jahren ihres Existierens noch nicht gelesen worden sein.

Allein die Vorurteilsfindung — die Bochumer Uni erwägt eine externe Prüfung — ist so meinungsfreudig, wie man sich diese von Experten nur wünschen kann: Der Politologe Hans-Otto Mühleisen konnte bei Lammerts Dissertation "nichts erkennen, was auf ein Plagiat schließen lässt"; ebenso hat sich die Berliner Plagiatsexpertin Debora Weber-Wulff geäußert.

Für ihren Kollegen auf österreichischer Seite, Stefan Weber, ist der Fall in ganz anderer Weise eindeutig. "Bundestagspräsident Norbert Lammert hat ebenfalls plagiiert", tönt er in seinem "Blog für wissenschaftliche Redlichkeit". Nach seinen forschen Worten war das als Paraphrase getarnte Abschreiben auch 1974 bereits ein Regelverstoß.

Am Donnerstag bekam Lammert wiederum Rückendeckung aus der Spitze der Unionsfraktion. "40 Jahre nach Veröffentlichung der Dissertation und nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl ist die öffentliche Behauptung von Plagiatsvorwürfen gegenüber Bundestagspräsident Lammert ein ziemlich durchsichtiges Manöver", sagte CDU/CSU-Fraktionsvize Michael Fuchs.

Erneut bricht ein Meinungs-Gestöber von wackeren Verteidigungen bis zu wüsten Angriffen über uns herein, die Maschinerie zur Erregung öffentlichen Ärgernisses brummt. Dabei zeigt sich, dass es keine verbindlichen Maßstäbe dafür gibt, was genau unter unsauberem Arbeiten zu verstehen ist, was also gerade noch eine Bagatelle oder doch schon ein Plagiat sein könnte. In Lammerts Arbeit glaubt der unter dem Pseudonym jagende Robert Schmidt auf 42 Seiten Passagen aus 21 Quellen mit Unregelmäßigkeiten entdeckt zu haben. Sollte dies als Plagiat geahndet werden, wird zu klären sein, ob bei lediglich zwölf zweifelhaften Quellen alles halb so schlimm gewesen wäre.

Also denkt die Wissenschaft jetzt über neue Regeln nach. Die Qualitätssicherung steht auf dem Spiel. Doch bei 25 000 Doktorarbeiten jährlich erscheint das kaum mehr als ein Lippenbekenntnis zu sein. Darum sollte auch lieber auf Prävention gesetzt werden, auf das Einüben guter wissenschaftlicher Praxis. Unbeantwortet bleibt bei all dem die Frage nach dem Wandel eines Text- und Werkbegriffs im digitalen Zeitalter. Kulturtheoretiker weisen darauf hin, dass am Computer — am sogenannten Rechner — geschriebene Texte nicht mehr Schrift im eigentlichen Sinne sind, sondern Algorithmen.

Warum aber beschäftigt ein möglicher Fußnotenschwindel uns so sehr — weit über die Grenzen eines nur wissenschaftlichen Interesses hinaus? Möglicherweise, weil im Doktortitel Grundwerte unserer Gesellschaft hinterlegt sind. Der Adelstitel in der feudalistischen Gesellschaft war verknüpft mit der Herkunft, nicht mit Klugheit. Der Doktortitel ist sein genaues Gegenstück: Bei ihm ist es allein das geistige Vermögen, das zählt. Zugleich wird beim Erwerb des Doktortitels eine Geste der Bescheidenheit sichtbar. Man promoviert nicht, sondern wird promoviert.

Der Wechsel vom Adels- zum Doktortitel ist ein Paradigmenwechsel — mit ihm kann der Übergang zu einer bürgerlichen Leistungsgesellschaft beschrieben werden. Auch das macht unser Selbstverständnis aus, das besonders an der Schnittstelle zur Macht eine sensible Angelegenheit wird. Und gerade diese Schnittstelle scheint Norbert Lammert mit seinem ausgeprägten Intellekt zu verkörpern. Er gehört innerhalb der Kaste der Berufspolitiker zu den großen Rednern; er ist mehr Denker als Handelnder, mehr geistreicher Querkopf denn folgsamer Parteisoldat.

Nun ist der 64-Jährige nicht irgendein Abgeordneter. Als Bundestagspräsident bekleidet er nach dem Bundespräsidenten das zweithöchste Staatsamt. Das gibt der Frage nach Ehrlich- und Redlichkeit noch einmal eine gewisse Wucht. Und es erhöht selbstverständlich den "Eros der Enthüllung", wie es der Züricher Kulturwissenschaftler Philipp Theisohn nennt.

Ohnehin wurde das Verhalten der Öffentlichkeit bisher nur in geringem Maße bedacht. Denn zu einem Plagiat gehören stets drei Beteiligte: ein Plagiierter, ein Plagiat und die Öffentlichkeit. So entstehen nach den Worten Theisohns Plagiate erst dadurch, dass man sich von ihnen erzählt: "Ein Plagiat, das niemand bemerkt, ist keines." So beschreibt der Begriff des Plagiats nicht nur das Verhältnis von Quelltext und Abschrift; es muss immer auch eine dritte, urteilende Instanz geben. Auf diese Weise instrumentalisiert das Plagiat die Öffentlichkeit. Die aber wird zur Schein-Öffentlichkeit, wenn der Plagiatsbefund oder -verdacht aus der Grauzone digitaler Anonymität kommt.

Wenn erst die Öffentlichkeit ein Plagiat in die Welt setzt, muss dies transparent geschehen. Die Anonymität der Fußnoten-Fahnder aber stellt jede Aufklärung in ein Zwielicht. Sind etwa parteipolitische Interessen das Motiv gewesen? Banale Racheakte? Oder wird nach den Worten Theisohns mit der Enthüllung am Ende nur die menschlich zweifelhafte Neigung befriedigt, große Geister kleiner und kleine Geister größer zu machen?

(mar)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort