Die Chaos-Metropole Dit is Balin

Die Hauptstadt hält sich gerne für eine Metropole von Weltrang. Doch schon beim Versuch, einen Flughafen zu bauen, wurde sie zur weltweiten Lachnummer. Jetzt scheitert Berlin sogar an dem Vorhaben, eine Wahl zu organisieren. Über ein Leben im Chaos.

 Ein Blick auf den Berliner Fernsehturm von Kreuzberg aus gesehen.  Foto: Stefan Jaitner/dpa

Ein Blick auf den Berliner Fernsehturm von Kreuzberg aus gesehen. Foto: Stefan Jaitner/dpa

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Abholaufrufnummer. Das Wort ist verräterisch. Berliner werden damit in ihren Bürgerämtern sofort auf das Behördenversagen eingestellt: Wenn selbst das einfache Aushändigen von fertigen Dokumenten derart kompliziert organisiert ist, dass man sich erst eine Nummer ziehen und in langer Schlange warten muss, dann stimmt was nicht im System.

Dass es Ende September über das Serviceportal der Stadt in ganz Berlin weder für irgendeinen Tag im Oktober noch für irgendeinen im November eine Möglichkeit gibt, einen Termin für eine Wohnungsanmeldung oder eine Personalausweisverlängerung zu bekommen, lässt Hunderttausende Hauptstädter verzweifeln. Zumal für Dezember auch noch keine Terminbuchungen möglich sind. Und wenn sie freigeschaltet werden, sind sie auch sofort weg. Urlaubsreisen sind in Gefahr, die Basis für staatliche Leistungen fehlt. Und die Dauer-Empörung über die unerträglichen Zustände wird auch nicht dadurch gemildert, dass ein florierender Schwarzmarkt für den Umgang mit behördlichen Terminen entstanden ist. Mag die Hauptstadt vielen lieb sein – für Hauptstädter, die ihre Verwaltung brauchen, ist sie vor allem teuer. Bei Zeit, Geld und Nerven.

Eine neue Dimension von Behördenversagen erlebte die Republik am Wahlsonntag. Jeder, der auch nur für einen Cent denken kann, hätte damit rechnen können, dass es nicht reicht, jedem Wahllokal nur zwei Wahlkabinen zur Verfügung zu stellen. Zumal unter Pandemiebedingungen die Hygieneauflagen zu beachten waren und es nicht nur um einen Wahlzettel für den Bundestag ging. Hinzu kamen zwei für die Abgeordnetenhauswahl, einer für die Bezirksvertretung und ein weiterer für einen Volksentscheid.

Das dauert natürlich, wenn jeder Wähler erst einmal einen nach dem anderen auseinanderfaltet, studiert, sich entscheidet, ankreuzt, zusammenfaltet und dann erst die Kabine freimacht. Hätte man mal mit Jüngeren, Älteren, Gehbehinderten simulieren und hochrechnen können. Nicht in Berlin.

Und so steuerte der Wahltag in Berlin zunächst ins Chaos und dann in eine rechtsstaatliche Katastrophe. Eine Stunde Anstehen war schon am Vormittag die Regel, zwei am Mittag, und als die Wahllokale um 18 Uhr schließen sollten, standen die Leute immer noch Schlange – und durften nach dem Gesetz ihre Stimme noch abgeben. Dabei kannten sie längst die Prognosen über den Wahlausgang. Damit war die Chancengleichheit der Wähler in Berlin verletzt. Das Wahlrecht selbst bestand für viele in der Praxis ohnehin nicht mehr. Wer nicht gut zu Fuß ist, kann nicht zwei Stunden stehen, um seine Stimme abzugeben. So ließen viele das Wählen sein.

Damit nicht genug. Am Nachmittag gingen in vielen Wahllokalen die Stimmzettel aus. Die engagierten Wahlhelfer machten sich zwar rechtzeitig selbst auf den Weg, statt auf die Belieferung durch die völlig überforderten Nachschublieferanten zu warten. Doch standen sie dann in den Bezirken erst einmal selbst wieder in langen Schlangen hinter anderen Wahlhelfern, denen ebenfalls ausreichend Stimmzettel fehlten. Mancher bekam dann die falschen Zettel mit. Und vereinzelt erhielten Wahlwillige sogar den Vorschlag, sie könnten jetzt wählen, wenn sie auf die Abgabe ihrer Zweitstimme verzichteten. Diese Zettel seien nämlich gerade aus.

Diktatoren werden sich die Hände reiben. Eine solche „Wahl“ würde bei ihnen von allen internationalen Wahlbeobachtern für gescheitert erklärt. Aber in Berlin führte das zunächst nur zum Rücktritt der Landeswahlleiterin – nachdem die Verantwortung zwischen Land und Bezirken hin und her geschoben worden war. Bald tauchten auch Zweifel an der Auszählung auf, weil auffällig viele Stimmzettel als ungültig gewertet worden waren. Aus einem Bezirk waren als Auszählungsergebnisse nur Schätzungen gemeldet worden. Andere hatten einfach aufgegeben, Zahlenwidersprüche aufzuklären. Der geschäftsführende Regierende Bürgermeister ist längst in den Bundestag gewechselt. Er geht, das Chaos bleibt. Und wächst.

Wenigstens hätte eine Wiederholungswahl im Winter nicht damit zu kämpfen, dass ausgerechnet am Wahltag ein internationaler Marathonwettkampf die Innenstadt weiträumig unpassierbar macht. Wie letzten Sonntag. Auch für Wahlwillige auf dem Weg zum Wahllokal. Das wäre selbst in weniger demokratischen Ländern Anlass gewesen, an der unbehinderten Wahrnehmung des Wahlrechtes zu zweifeln. Und was ist die Erklärung der Berliner Staatskanzlei zu dieser unverzeihlichen Terminkollision? Die Bundesregierung sei „leider nicht bereit gewesen, die Bundestagswahl zu verschieben“. Die meinen das tatsächlich ernst!

Da schimmert er jedenfalls wieder durch: der unbändige Berliner Größenwahn in Kombination mit unschlagbarer eigener Unfähigkeit. Wie das in einer eigentlich als Multikulti-Metropole auf Willkommenskultur eingestellten Millionenstadt aussehen kann, haben Geflüchtete im Sommer und Herbst 2015 auf traumatisierende Weise zu erleiden gehabt. Tage- und nächtelang standen sie vor den Registrierungsschaltern des Lageso, des Landesamtes für Gesundheit und Soziales, das zur Zentrale für Gesundheitsgefährdung und Unsoziales wurde. Freiwillige sorgten sich um die Betroffenen, damit sie in den Schlangen etwas zu essen und zu trinken bekamen und Kollabierte medizinisch versorgt wurden. So wie in den Behörden auch immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bis zur Erschöpfung alles tun, damit den Bürgern zeitnah geholfen werden kann. Aber das System knacken sie nicht. Und dieses System verlangt, dass Menschen, die die Stadt hochbringen wollen und sich mit einer Geschäftsidee selbstständig zu machen versuchen, online erst einmal keinen Termin bekommen und lange Wartezeiten einplanen müssen. Dann verbringen sie weitere Tage damit, bei einer Behörde der Stadt eine Bescheinigung zu bekommen, die eine andere Behörde derselben Stadt für den weiteren Geschäftsgang benötigt. So, als traue die Stadt in einem ersten Schritt grundsätzlich nicht den Angaben ihres Bürgers und dann sich selbst noch viel weniger. Als ob das im Jahr 2021 durch Online-Verknüpfung der vorhandenen Daten mit Einwilligung des Antragstellers nicht auf Knopfdruck möglich wäre! In Litauen vielleicht, aber nicht in Lichterfelde. Wo kämen wir denn da hin!?

Gibt es mal Lichtblicke wie bei der Digitalanzeige an der Bushaltestelle, bleibt Skepsis angebracht. Man darf sich zwar freuen, dass der nächste Bus in vier Minuten, drei Minuten, zwei Minuten, einer Minute und dann „jetzt“ kommt. Aber wenn die Anzeige dann wieder auf „zehn Minuten“ springt und wieder langsam auf „jetzt“ wechselt, ist der Digitalfortschritt relativ. Jedenfalls wenn jedes Mal etwas fehlt: dass dann auch ein Bus kommt. So werden verhinderte Fahrgäste zu Wutberlinern.

Wo die Berliner hinwollen, wissen sie jedoch oft selbst nicht. Eine große Mehrheit sprach sich in Umfragen dagegen aus, ein Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungskonzernen umzusetzen. Zugleich verhalfen sie ihm am Sonntag zur Mehrheit. Viele wollten wohl nur ein „Zeichen“ setzen, dass ihnen die Mieten zu hoch sind. Aber gelingt es besser, wenn der Verstand vom Gefühl verdrängt wird? Schon beim Mietendeckel hatte der Senat übersehen, dass er das auf Landesebene gar nicht beschließen kann. Das Manöver brachte gehöriges Durcheinander in den Wohnungsmarkt. Die Enteignung würde ihm den Rest geben. Wenn der Investor in Wohnungsbau aus der Stadt getrieben wird, die Stadt über 30 Milliarden Entschädigung zahlen muss und jährlich Millionen-Zusatzausgaben für die Verwaltung zu tragen hat, bleibt kein Geld für den Bau neuen Wohnraums, um die Knappheit zu bekämpfen. Im Ergebnis wird der Sturm auf die Wohnungen noch größer, steigen die Preise weiter. Logik nach Berliner Art.

Die über die Zustände der Hauptstadtbehörden verzweifelten Bundestagsverantwortlichen haben sich dem Vernehmen nach schon mal erkundigt, wie die USA das mit ihrer Hauptstadt gemacht haben. Dort ist der District of Columbia mit den Verfassungsorganen nicht in kommunaler Hand, sondern dem Kongress unterstellt.

Vor dem Westportal des Reichstages steht seit zehn Jahren ein Provisorium für die Besucherkontrolle. Inzwischen ist eine Verständigung mit dem Bezirk Mitte erreicht, aber die Verhandlungen über ein zeitgemäßes Besucherzentrum und einen besseren Schutz des Parlamentes zogen sich über Jahre zäh dahin. Und kosteten Dutzende Millionen an Baukostensteigerungen.

Jahrelang redete sich Berlin damit heraus, dass es unterm Strich eine fünfstellige Zahl von Einwohnern pro Jahr dazubekomme. Die Infrastruktur müsse sich erst darauf einstellen. Da trifft es sich, dass im vergangenen Jahr die Zahl um 19.000 schrumpfte. Millionen Touristen hält das nicht davon ab, Berlin charmant und attraktiv zu finden.

Sie müssen in der Regel auch nicht zum Amt. Oder wählen.

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