Bewegung im Bundestag Direkte Demokratie - da tut sich was

Berlin · Auf Bundesebene war die Tür für mehr direkte Demokratie seit Jahrzehnten fest verschlossen. Nun hat die Koalition sie aufgemacht. Und nach einer Expertenanhörung ist sogar schon sichtbar geworden, wohin die Reise gehen könnte.

 Wie die repräsentative Demokratie, hier der Bundestag, durch mehr Bürgerbeteiligung ergänzt werden kann, wollen Union und SPD ausloten.

Wie die repräsentative Demokratie, hier der Bundestag, durch mehr Bürgerbeteiligung ergänzt werden kann, wollen Union und SPD ausloten.

Foto: dpa/Jens Büttner

Das Schaudern ist noch da. Jenes innerliche Schütteln vornehmlich bei konservativen Politikern, wenn sie an Volksabstimmungen denken. Bei einer Expertenanhörung im Innenausschuss des Bundestages zur Frage von mehr direkter Demokratie kann ein erfahrener Jurist auch zusätzliche Anlässe zum angewiderten Kopfschütteln liefern. Zehn Millionen Stimmen, so rechnet Prof. Otto Depenheuer von der Universität Köln vor, würden reichen, um Deutschland per Verfassungsänderung aus der EU herauszubringen, jedenfalls wenn es nach dem von den Linken auf den Tisch gelegten Gesetzesantrag ginge. Zehn (!) von 82 Millionen Leidtragenden. Der Brexit zeige doch, so Depenheuer, was passiere, wenn ein Volk über hochkomplexe Angelegenheiten mit Ja oder Nein zu entscheiden habe.

Auch die emeritierte Frankfurter Professorin Regina Ogorek gehört zu den warnenden Stimmen, und zwar auf der Grundlage jahrzehntelanger eigener Erfahrungen mit dem viel gepriesenen Schweizer System der direkten Demokratie. Nur die Hälfte der Abstimmenden wisse in der Regel überhaupt, worum es gehe. In einem Fall hätten 96 Prozent eines Volksentscheides angenommen, über die Einkünfte von Managern zu entscheiden, dabei sei es in Wirklichkeit um andere Angelegenheiten des Aktienrechts gegangen.

Vor allem schildern die Experten, dass die landläufige Vorstellung von Problem - Volksentscheid - Lösung jedenfalls zeitlich mit der Realität wenig zu tun hat. Auf vier, eher auf acht bis neun Jahre wird die Zeitspanne geschätzt, die zwischen dem Start eines Volksbegehrens und der Entscheidung vorgesehen werden müsse. Auch die Absenkung des mit dem Linken-Antrag verknüpften Wahlalters auf 16 Jahre und die Öffnung des Wahlrechts für länger hier lebende Ausländer wird sehr unterschiedlich beurteilt und überwiegend abgelehnt. Mal aus systematischen Gründen (dann müssten die 16-Jährigen auch unter das Erwachsenenstrafrecht fallen), mal aus verfassungsrechtlichen (selbst eine Einfügung des Ausländerwahlrechtes in die Verfassung sei verfassungswidrig). Andere meinen, es ruhig mal auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Im Grunde ist das Schicksal eines Linken-Antrages leicht vorauszuahnen. Es gibt dafür keine Mehrheit, wegen der Koalitionsarithmetik und der Konkurrenz unter den Oppositionsfraktionen nicht einmal eine nennenswerte Zahl von Unterstützern. Doch bei diesem Thema sieht es anders aus. Denn es gibt nicht nur Millionen von Bundesbürgern, die mit mehr direkter Demokratie sympathisieren, nicht nur die Ansage der CSU im Wahlkampf, mehr davon auch auf Bundesebene anzustreben. Es gibt sogar eine Passage im Koalitionsvertrag, die aufhorchen lässt. „Wir werden eine Expertenkommission einsetzen, die Vorschläge erarbeiten soll, ob und in welcher Form unsere bewährte parlamentarisch-repräsentative Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ergänzt werden kann“, heißt es im Koalitionsvertrag. Genau das macht die Anhörung so interessant. Geht da was?

Ja, vor allem bei der Einbindung von Bürgern, wie sie Prof. Hans Lietzmann von der Universität am Beispiel von Baden-Württemberg skizziert, wenn es etwa um größere Projekte geht und repräsentativ ausgeloste Männer und Frauen die Grundzüge von Experten dargelegt bekommen und dann darüber beraten. „Am ersten Tag hacken sie aufeinander ein, am zweiten sind sie auf Augenhöhe und am dritten einer Meinung“, berichtet der Politikwissenschaftler mit sichtlicher Bewunderung.

Am Ende ist auch die Regierungspartei SPD beeindruckt. „Solche geloste Gremien würden an Wahlen und im Mehrheitsdiskurs bisher unterrepräsentierte Gruppen beteiligen“, sagt der SPD-Innenpolitiker Helge Lindh unserer Redaktion. Auf diese Weise ließe sich auch verhindern, dass Volksinstrumente von Populisten und Lobbyisten gekapert werden. Zudem wären komplexe Sachverhalte nicht auf Ja- oder Nein-Antworten zu reduzieren. „Demokratie ist die Weisheit der Vielen“, unterstreicht Lindh. Er plädiert deshalb als Ergebnis der Anhörung, diesen Grundsatz mit ergänzenden Verfahren zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu stärken.

Friedrich Straetmanns von der Linken ist ebenfalls angetan von den Befragungsrunden. Er zeigt sich einerseits flexibel, was den eigenen Antrag anbelangt und meint, über das Mindestquorum für den Start solcher Volksbegehren könne man diskutieren. Ob hunderttausend Unterschriften reichen sollen oder eine Million, um dieses Instrument zu bedienen, darüber solle der Ausschuss in Ruhe reden. Für ihn ist jedenfalls mit Blick auf das gesamte Vorhaben von direkter Demokratie wichtig, dass mit der Anhörung „ein Pfahl eingerammt“ worden sei.

Skeptisch bleibt Grünen-Geschäftsführerin Britta Haßelmann. Es sei zwar richtig und wichtig, über mehr Beteiligung und Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in die repräsentative Demokratie zu reden. Das legten die Erfahrungen nahe, die mit Volksinitiativen auf Landesebene und mit Bürgerbegehren vor Ort gemacht würden. Für sie bleibt es jedoch enttäuschend, dass sich bei der von Union und SPD angekündigten Demokratiekommission nichts tue.

Vor der Halbzeitbilanz der Koalition dürfte jedoch die Anhörung einen deutlichen Impuls gesetzt haben, das Vorhaben bald anzupacken.

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