20 Jahre Mauerfall - die Reise (5) Die ratlose Jugend von Hoyerswerda

(RP). Einst war die Stadt die kinderreichste der DDR. Heute kämpft Hoyerswerda gegen die Überalterung. Und gegen das Image, das die brutalen Neonazi-Angriffe auf Ausländer 1991 der Stadt aufgezwungen haben. Viele junge Menschen kehren deshalb ihrer Heimat den Rücken. Wer bleiben will, findet wenig Perspektiven.

Steffi. war noch nicht geboren, als Hoyerswerda 1991 internationale Schlagzeilen machte. Aber weil sie in Hoyerswerda zur W elt kam, trägt auch die 16-Jährige die Last, die der einstigen Industriemetropole in der Lausitz an drei Septembertagen jenes Jahres von gewalttätigen Neonazis aufgebürdet worden ist.

Es waren etwa 20 Schläger, die nach einem Einsatz des Ordnungsamts gegen Zigarettenschmuggler die Hetzjagd auf Vietnamesen eröffneten, das Wohnheim mosambikanischer Vertragsarbeiter mit Steinen und Molotowcocktails bewarfen und schließlich, beklatscht von scheinbar unbeteiligten Bürgern, ein Asylbewerberheim stürmten.

Das Pogrom, dem 1992 der Nazi-Überfall in Rostock-Lichtenhagen und 1993 die Morde von Solingen folgten, hat der Lausitzstadt den Beinamen Nazi-Hochburg eingetragen. Viel mehr als die furchtbaren Bilder, viel mehr als die hilflose Reaktion der Politiker, die seinerzeit sämtliche Ausländer aus der Stadt evakuierten ("ausländerfrei" wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 1991) — viel mehr hat die Welt von Hoyerswerda nicht mehr mitbekommen.

Martin Schmidt war damals Bürgermeister für Soziales und der Erste, der sich in das von Neonazis belagerte Ausländer-Heim an der Albert-Schweitzer-Straße wagte, der Einzige, der das Gespräch mit Opfern, aber auch mit den Tätern suchte. Heute sagt der studierte Theologe, der in Hoyerswerda Ingenieur wurde: "Reden bringt nichts. Man muss ihnen vorleben, wie das Miteinander richtig funktioniert."

So richtig hat es wohl nicht funktioniert in den vergangenen Jahren: Erstmals ist im Juni ein NPD-Vertreter in den Stadtrat eingezogen. Gewählt von Menschen wie denen, die damals bei der Ausländerhatz in der Neustadt applaudierten. Die Täter, sagt Schmidt, seien längst geläutert. Manchmal trifft er einen von ihnen mit Frau und Kindern auf dem Wochenmarkt. Wenn Nazis in Hoyerswerda aufmarschieren, um jenes Septembers zu gedenken, in dem die Stadt "ausländerfrei" wurde, seien das Fremde, die in Bussen aus Dresden, Leipzig und aus dem Westen kämen. Allerdings gab es am 15. Jahrestag des Pogroms auch keinen Protest der Einheimischen gegen den unsäglichen Festzug.

20 Jahre nach dem Mauerfall trägt Hoyerswerda doppelt an der Vergangenheit. In der DDR zur modernen Vorzeigestadt ausgerufen, überließ man die alte Stadt dem Zahn der Zeit und baute auf der grünen Wiese zehn moderne Plattenbausiedlungen für die Arbeiter, die im Gaskombinat Schwarze Pumpe die Energieversorgung des Landes sicherten. Chefarchitekt war kein Geringerer als Gropius-Schüler Richard Paulick. "Hoyerswerda war wichtig für das System", sagt Martin Schmidt. So wichtig, dass das übliche Überwachungsverhältnis von einem Stasi-Spitzel pro 20 Einwohner auf 1 : 6 erhöht wurde. Die Ein-Raum-Wohnung neben dem Eingang jedes Hochhauses "gehörte der Abteilung Horch und Guck". Drüber stapelten sich die Einheitsmöbel für diesen Plattenbau-Typ: Küche, Durchreiche, Schrankwand. "Die Durchreiche", erklärt Schmidt ironisch, "war ein großer sozialistischer Schritt. Sie ermöglichte der werktätigen Frau, weniger Zeit bei der entwürdigenden Hausarbeit zu verbringen."

Die Plattenbauten Hoyerswerdas waren Anfang der 60er Jahre die ersten, in denen selbst das Erdgeschoss aus Platte war. Die Statik dafür hatte einer der ersten Computer berechnet. Dessen Erfinder, Konrad Zuse, hat in Hoyerswerda Abitur gemacht. Heute heißt das Berufsschulzentrum nach ihm, und anlässlich seines 100. Geburtstags 2010 soll ein überdimensionales PC-Modell in der Neustadt aufgebaut werden. Freie Flächen dafür gibt's genug. Von den 70 000 Einwohnern, die hier noch in den 80er Jahren lebten, sind heute bloß noch knapp über 33 000 übrig. Viele Hochhäuser sind abgerissen worden. Nicht jeder ist damit einverstanden. "Auch die Hochhäuser sind Heimat", sagt Schmidt.

Den von Paulick geplanten Mittelpunkt, auf den die Straßen aller Wohngebiete sternförmig zulaufen, hat die Neustadt erst nach der Wende bekommen. Für Einkaufs- und Kulturzentrum fehlte zu DDR-Zeiten das Geld. Das ist noch immer knapp: Karstadt hat längst die Segel gestrichen und nur eine Schnäppchenecke zurückgelassen. Man gibt sich dennoch Mühe, baut Kunstwerke an die Stelle abgerissener Elfgeschosser, im Einkaufszentrum wird regelmäßig zu Ausstellungen geladen. Gerade sind die Kleingärtner mit ihren schönsten Beeten da.

Auf dem Markplatz trifft sich zweimal die Woche ganz Hoyerswerda. Die Bauern aus dem Umland bringen frisches Gemüse, Käse und Fleisch, und ein einzelner vietnamesischer Händler verkauft Textilien. Bei Ausländern steht Hoyerswerda nicht eben hoch im Kurs.

In der zuckrig sanierten Altstadt ist der Marktplatz dagegen auch am Samstagmittag wie leergefegt. Als die Neustadt entstand, mit ihren Schulen, Kindergärten und Versorgungszentren, da "gab es keinen Grund, in die Altstadt zu gehen", sagt Schmidt. Es scheint, als habe sich daran noch nichts geändert.

Die Neuerschaffung einer ganzen Stadt hat auch die Literatur inspiriert. Schriftstellerin Brigitte Reimann, der Liebe wegen nach Hoyerswerda gekommen, ließ Romanheldin Franziska Linkerhand als Architektin mit dem Traum von einer perfekten Stadt an der sozialistischen Wirklichkeit scheitern. 1974, nach Reimanns Krebstod, erschien der Roman allerdings ohne kritische Passagen — gekürzt im Auftrag der Partei.

Die DDR-Vergangenheit ist noch so eine Altlast, die Jugendliche wie Steffi mitzutragen haben. In der einst kinderreichsten Stadt der DDR lebt heute kaum wer in der Altersgruppe zwischen 20 und 30 Jahren. "Der Untertitel unserer Stadt", sagt Steffi, "ist ,überaltert und sterbend'. Leider wird öffentlich kaum zur Kenntnis genommen, was in dieses Bild nicht passt." Und auch viele in Steffis Alter schmieden längst Zukunftspläne, in denen Hoyerswerda nicht vorkommt.

Das sei ihnen nicht vorzuwerfen, sagt Martin Schmidt. "Es ist die Aufgabe der Stadt, dafür zu sorgen, dass sie für Jugendliche attraktiv ist." Darum bemüht sich etwa die Kulturfabrik. Gerade hat sie an der Dürerstraße zwei zum Abriss vorgesehene Plattenbauten übernommen. Die letzten Mieter waren kaum ausgezogen, da rückten junge Leute mit Farben und Pinsel in der "Malplatte" an. In 36 Wohnungen konnten sie ihre Zimmer nach eigenen Ideen gestalten. Die einen malten ihre Träume, andere setzten sich mit der Stadt auseinander. Steffi hat mit einem Buch angefangen und mit einer Hand: "Ein Symbol für Franziska Linkerhand, die in unserer Stadt eine große Rolle spielt."

Die fiktive Linkerhand ist im heutigen Hoyerswerda fast präsenter als Brigitte Reimann, mit der Schmidt Mitte der 60er Jahre den Kunstverein gegründet hat. Kürzlich hat er die Jugend aufgerufen, Franziska Linkerhand einen Gruß aus dem heutigen Hoyerswerda zu schicken. Viele Abschiedsgrüße waren dabei, aber auch eine Menge Wünsche für die Stadt — vom Autobahnzubringer über alternative Energieunternehmen hin zu mehr Tourismus. Steffi hat eine Bildcollage gemacht. "Ich finde Hoyerswerda eigentlich recht schön. Man muss nur auf die Details achten."

Um auf Details zu achten, ist Felix Ringel aus Cambridge nach Hoyerswerda gekommen. Er studiert Anthropologie — und dafür nun "das Leben in einer schrumpfenden Stadt". Spannend sei das, sagt er in der "Malplatte" der Kulturfabrik, in der er sich mehr engagiert, als man es von einem anthropologischen Beobachter erwarten könnte. Hoyerswerda hat ihn eingefangen — er ist auch schon drei Monate länger da als eigentlich geplant.

Auch Steffi will am liebsten bleiben. Die 16-Jährige träumt von einer Lehrstelle als Maler- und Lackiererin. "Das wird schwer", sagt sie realistisch. Aber wenn keiner bleibt, kann sich auch nichts ändern. Und zu malern gibt's in Hoyerswerda eigentlich genug.

(RP)
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