Chaotischer Neustart Die Piraten zerreißt der Wunsch nach Mitbestimmung

Neumarkt (Deutschland) · Sie debattierten um die 30 Stunden lang und schafften es mit ernster Entschlossenheit sogar, ein Wahlprogramm auf den Weg zu bringen. Dennoch kann nach dem Parteitag der Piraten am Wochenende in Neumarkt von einem gelungenen Neustart kaum die Rede sein.

Piraten-Parteitag: Chef Schlömer feuert Weckruf ab
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Doch zeigte der heftige Streit um die Online-Mitgliederversammlung schmerzhaft, dass die Piraten noch immer schwer mit ihrer basisdemokratischen Organisation zu kämpfen haben.

Parteitage der Piraten haben ihr ganz eigenwilliges Flair: In den Jura-Hallen tummeln sich junge, computerbegeisterte Männer in bedruckten T-Shirts, die Frauen tragen extravagante Piratenbraut-Roben. Vor dem Eingang floriert der Bier- und Bratwurstverkauf, das Piraten-Lieblingsgetränk Club Mate ist meist ausverkauft.

Doch die Bierzelt-Atmosphäre täuschte nur oberflächlich darüber hinweg, dass die rund 1200 Piraten im Saal sich Sorgen machen um den erhofften ersten Einzug in den Bundestag. Auch wenn führende Piraten wie der Bundestagskandidat Bruno Kramm angriffslustig einen "Hammer-Wahlkampf" ankündigten - viele machten ernste Gesichter. Besonders Neumitglieder sind enttäuscht, dass der Höhenflug seit den triumphalen Einzügen in vier Landtage erst einmal vorbei ist.

Anfangs eisern und diszipliniert

Die schwierige Lage der Piraten skizzierte jüngst auch eine Studie: Die bei den Piraten verbreitete "Schwarmorganisation" sei zu einer politisch notwendigen Agendasetzung "kaum in der Lage", kritisieren die Politikwissenschaftler Alexander Hensel und Stephan Klecha vom Göttinger Institut für Demokratieforschung die nur schwer in verständliche Bahnen zu lenkende Meinungsbildung.

Zunächst sah es in Neumarkt aus, als wollten die Piraten diese akademische These Lügen strafen: Eisern arbeiteten sie sich durch das Antragsbuch mit mehr als 800 Seiten, am Ende standen Beschlüsse zu Kernthemen wie Netzpolitik, Bürgerrechte, mehr Transparenz und Mindestlohn im Wahlprogramm. Manchen Parteitagsteilnehmern wurde schwindlig bei dem Tempo, in dem Beschlüsse durchgewunken werden. "Ihr habt also gerade ohne inhaltliche Debatte ein Wahlprogramm beschlossen, dass ihr nicht gelesen habt", twitterte besorgt die Schauspielerin Anne Helm vom Parteitag.

Zwei Abende Kampf

Und dann sprengten noch die Streits um die sogenannte ständige Mitgliederversammlung (SMV) die straffen Zeitpläne der Parteitagsregie: Zwei Abende lang bekämpften sich die Befürworter und Gegner mit immer neuen Geschäftsordnungsanträgen. An den Mikrofonen bildeten sich lange Schlangen, auf einem Laufband wurde in roten Lettern der Schriftzug "Bitte kein Tumult" in den Saal projiziert. "Die Stimmung ist im Keller", resümierte am Samstagabend erschöpft Versammlungsleiter Florian Bokor.

Am Sonntagnachmittag schließlich scheiterte ein Konsensantrag zur Einrichtung eines dauerhaften Online-Parteitags nur hauchdünn an der nötigen Zweidrittel-Mehrheit. Gescheitert ist damit aber das Kalkül der Spitze, die Online-Mitgliederversammlung im Wahljahr als neues Aushängeschild für die Internet-Partei präsentieren zu können und sich so von den Etablierten abzuheben. Schlömer gab sich pragmatisch: "64 Prozent sind auch ein gutes Ergebnis." Jetzt könne in der Partei weiter diskutiert werden.

Im Vorstand um Schlömer jedenfalls soll nach den Reibereien der Vergangenheit erst mal Ruhe einziehen. Die neue politische Geschäftsführerin Katharina Nocun, die den mitunter exzentrisch agierenden Johannes Ponader ablöste, kennt den Parteichef gut. Ob allerdings Schlömers Motivationsaufruf "Piraten, auf in den den deutschen Bundestag!" auch beim Wähler ankommt, ist nach den Geschäftsordnungs-Schlachten von Neumarkt weiter offen.

wes/jes

AFP

(AFP/pst)
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