Überraschung in Berlin Die Piraten - eine Anti-Partei wird Wahlsieger

Berlin (RPO). Fast neun Prozent. Dass die Piraten-Partei in Berlin einen derart großen Erfolg landet, ist die große Überraschung dieser Wahl. Eine neue Partei wirbelt die Etablierten durcheinander, indem sie Hoffnungen von sowohl jungen als auch frustrierten Wählern bündelt. Konkrete Inhalte stehen dabei hintenan.

 Andreas Baum ist angesichts des Erfolgs der Piraten in Berlin "baff".

Andreas Baum ist angesichts des Erfolgs der Piraten in Berlin "baff".

Foto: dapd, dapd

Das muss man erstmal sacken lassen in Berlin. Die Piratenpartei, die lange keiner wirklich ernst genommen hat, zieht ins Berliner Parlament ein. Nicht mit Hängen und Würgen und gerade so über der Fünf-Prozent-Hürde, sondern nach den Zahlen der ARD-Hochrechnung sicher über acht Prozent.

Damit hat offenbar selbst Andreas Baum nicht gerechnet, Spitzenkandidat der Piraten. Der Neu-Politiker sieht ganz anders aus als man das von Politikern gewohnt ist. Der 31-Jährige bevorzugt Pullover mit Kapuze, Turnschuhe, Jeans und die Haare sind auch nicht gerade streng gescheitelt. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mt einem Partei-Slogan. Ein bisschen erinnert das Erscheinungsbild an das der Grünen in ihren Gründerjahren.

"Einfach baff"

Er sei einfach baff, ließ er die Medien wissen. Den Grund für den Erfolg seiner Partei lieferte er gleich mit: "Die Bürger sehnen sich offensichtlich nach einer anderen Art von Politik", sagt Baum. Der Mann will Sachen verändern, auch Kleinigkeiten: Eines der ersten Vorhaben soll laut Baum sein, direkt aus dem Abgeordnetenhaus twittern zu können.

Die Gründe für den Erfolg sind vielfältig. Die Piraten haben es in Berlin fertig gebracht, eine neue Wählerschaft zu mobilisieren. Ihre Klientel findet sie vor allem bei jungen Menschen, bei den Kreativen, der in Berlin stark vertreteten Internet-Szene, aber auch den Menschen, die im Hinblick auf freiheitliches Denken und Bürgerrechte früher einmal die FDP gewählt haben. Eine erste Wähleranalyse zeigt: alle Parteien - außer der CDU - haben an die Piraten verloren, bisherige Nicht-Wähler sind dazu gekommen.

Ein Gegenentwurf

Im Wahlkampf hat sie sich als Gegenentwurf zum Establishment positioniert. Bei der immer größeren Politik-Frustration der Deutschen ein durchaus vielversprechender Ansatz. Mit dem Polit-Jargon haben sie nicht viel am Hut. Wenn ein Pirat auf eine Frage keine Antwort geben kann, räumt er das auch freimütig ein, ohne groß herumzueiern wie das wohl ein vermeintlicher Polit-Profi tun würde. "Jetzt sind wir gefordert und wir werden liefern", sagt der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz am Wahlabend im TV zu solchen fehlenden Antworten. Die weiteren Ziele sind klar: "Ich glaube, dass wir Chancen haben, 2013 in denBundestag zu kommen", sagt Nerz.

Anders als üblich waren auch die Plakate. In knalligen Farben und grafisch deutlich abgehoben von denen der Konkurrenz präsentieren sich die Kandidaten. Alle sind betont gelassen, man könnte auch sagen alternativ abgelichtet, einer mit Schiebermütze, einer mit Turban, ein Unfrisierter, einer grinst breit. "Warum hänge ich hier eigentlich", steht dort groß zu lesen. Dazu rätselhafte Botschaften in schwarzen Balken mit oranger und weißer Schrift. "Mindestlohn ist eine Brückentechnologie" heißt es etwa. Gemeint ist, dass ein Mindestlohn eine Brücke in den Arbeitsmarkt ist.

Ticketloser ÖPNV

Das immerhin zeigt, dass die Piraten sich beträchtliche Mühe gegeben haben, den Vorwurf zu entkräften, sie seien monothematisch an die "Freiheit im Internet" gekoppelt. Entstanden ist die Partei aus der Netzgemeinschaft. Sie versteht sich daher auch ausdrücklich als Partei der Informationsgesellschaft. Ihren Namen hat sie von einer Kampagne der Musikindustrie abgeleitet, die Raubkopien als Piraterie ächtete.

An Forderungen hat die Piratenpartei inzwischen einige schöne Dinge entwickelt. Neben dem Mindestlohn etwa ticketloses Fahren im Nahverkehr, ein Recht auf Rausch oder ein bedingungsloses Grundeinkommen. 51 Seiten umfasst das Wahlprogramm. Es habe nicht den Anspruch, ein umfassender Gesellschaftsentwurf zu sein, sagt ein Parteisprecher. Pläne aber gibt es.

Die Finanzierung ist noch offen

Im Bereich der Bildung wollen die Piraten die traditionellen Klassen auflösen und stattdessen jedem Schüler ermöglichen, nach seiner eigenen Geschwindigkeit zu lernen. Auf jede Gruppe von 15 Lernenden soll ein Lehrer kommen. Zudem wollen die Piraten einen "Rauschkunde-Unterricht" einführen, der über den Umgang mit Drogen aufklären soll. An den Universitäten wollen die Piraten die Regelstudienzeit streichen.

Antworten, wie denn solche Pläne finanziert werden sollen, blieb die Partei bisher schuldig. Legendären Ruf hat mittlerweile ein Interview von Spitzenkandidat Baum im RBB, nach dem er sich den Vorwurf gefallen lassen muss, manche Dinge etwas auf die leichte Schulter zu nehmen. Ob er denn wisse, wie hoch Berlin verschuldet sei, konnte Baum dem Moderator nicht beantworten. "Viele, viele Millionen", schätzte er. Dabei steht das Land mit mehr als 63 Milliarden Euro in der Kreide.

So jung wie die Zukunft

Die Partei antwortete auf ihre Weise und bietet nun ein App an, über das sich der Schuldenstand der Hauptstadt abrufen lässt. Die Ausgestaltung ihrer politischen Pläne soll nun im direkten Austausch mit den Bürgern entwickelt werden. So soll sich auch klären lassen, wo denn am Ende des Tages gespart werden soll.

Ob die Piratenpartei es fertig bringt, wie einst die Grünen den Erfolg von heute zu verstetigen und von einer Erscheinung zu einer politischen Kraft zu wachsen, steht freilich noch in den Sternen. Von der Demoskopie her hat sie beste Voraussetzungen: Nach Angaben der Piratenpartei sind ihre Mitglieder im Schnitt gerade einmal 31 Jahre alt. Die Zukunft liegt vor ihnen. Davon können andere etablierte Parteien nur träumen.

Berlin - ideal für die Piraten

Andererseits haben sie in Berlin auch das beste Pflaster vorgefunden. Von den 5000 Partei-Mitgliedern stammen allein 1000 aus der Hauptstadt. Die Forschungsgruppe Wahlen schreibt dazu in ihrer Wahlanalyse: "Bei einer durchwachsenen Senatsbilanz und einer schwachen Opposition profitieren die Piraten von Unzufriedenheit mit der etablierten Politik in Berlin insgesamt, treffen im urban-vernetzten Milieu einer jungen, trendigen Großstadt aber auch auf optimale strukturelle Voraussetzungen."

Die Chance, dass die Piraten nur vorübergehend als Fraktion im Parlament Platznehmen können, ist noch aus einem anderen Grund eher groß. 80 Prozent der Berliner Wähler machten bei der Alternativ-Partei "aus Unzufriedenheit mit den anderen Parteien" ihr Kreuzchen, wie die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte. Nur für zehn Prozent war sie auch inhaltlich attraktiv. Indiz für die Funktion als Protestpartei liefert auch die Statistik: So wählten mehr Arbeitslose die Piraten als die Linkspartei.

"Nicht unterschätzen"

"Die Piraten sammeln viel von dem Protestpotential auf", sagt der Meinungsforscher Joachim Koschnicke vom Forsa-Institut. Unzufriedene Wähler, die früher ihr Kreuz bei den Grünen gemacht hätten, würden jetzt für die Piratenpartei stimmen. Dies liege auch an der Kampagne der Grünen, die im Gegensatz zu früheren Wahlen ihre Frechheit komplett verloren habe.

Erst einmal aber geht es um Berlin. Um die fehlende Erfahrung im parlamentarischen Alltag sorgt Spitzenkandidat Andreas Baum nicht: "Wir werden uns jedenfalls schnell einarbeiten, sobald wir im Parlament sitzen. Man sollte uns nicht unterschätzen", kündigte er selbstbewusst in einem Interview an.

Mit Material von dapd und Reuters

(RTR/dapd/)
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