Wandel in der internationalen Machtbalance Die neue Berliner Republik

Berlin · Deutschland hat die Nachbarn in Europa weit hinter sich gelassen. Die sehen die deutsche Dominanz mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung. Selbst die zweite Führungsmacht Frankreich muss eine neue Rolle suchen. Eine Analyse.

Forbes-Liste 2012: Merkel bleibt mächtigste Frau der Welt
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In Zeiten des Kalten Kriegs war die Ordnung denkbar einfach. Den Westen schmiedete ein eisernes Bündnis zusammen, das den kommunistischen Block in seinem Vorwärtsdrang hemmen sollte. Der militärische Ausdruck dieses Bündnisses war die Nato, die "die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten halten sollte", wie ein boshafter Spruch es treffend ausdrückte. Das zivile Pendant zur Nato lag in der europäischen Einigung. Sie ermöglichte den wirtschaftlichen Wiederaufstieg der Bundesrepublik und schweißte die Erbfeinde Deutschland und Frankreich zusammen — im Dienste eines friedenstiftenden Einheitswerks.

Lange Zeit waren die Nachbarn mit dem früheren Kriegsgegner zufrieden. Die lange Phase des wirtschaftlichen Wohlstands machte das geeinte Europa zu einer Institution, von der alle profitierten. Die Machtbalance mit dem wiedererstarkten Deutschland funktionierte über das neue gleichberechtigte Dreieck Bonn - Paris - London. Und die legendären Paare Konrad Adenauer/ Charles de Gaulle, Helmut Schmidt/ Giscard d'Estaing und Helmut Kohl/ François Mitterrand trieben trotz aller persönlichen Unterschiede das wirtschaftlich und politisch zusammenwachsende Europa voran.

Die Nummer eins in Europa

Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung ist diese Welt in Unordnung geraten. Zwar hat die Nachkriegsordnung die zusammenfallende Welt des kommunistischen Blocks noch aufgefangen. Die beiden grundlegenden Institutionen — Nato und Europäische Gemeinschaft — überlebten den Zusammenbruch des Kommunismus. Beide haben sogar viele ehemaligen Staaten des Ostblocks aufgenommen. Und seit 1999 bindet der Euro jetzt 17 Länder Europas zusammen.

Und doch hat sich die internationale Machtbalance und vor allem die Rolle Deutschlands grundlegend geändert. Das geschah nicht auf einen Schlag, wie noch zu Zeiten der Wiedervereinigung der einflussreiche amerikanische Kolumnist William Safire von der "New York Times" argwöhnte, als er vom neuen aggressiven Selbstbewusstsein der Deutschen sprach.

Deutschland wurde in einem längeren Prozess zur Nummer eins in Europa, zur Nummer zwei im transatlantischen Bündnis Nato und zur Nummer drei in der Weltwirtschaft. Das ist eine ungewohnte Stellung für ein Land, dessen Weltmachtambitionen die Alliierten in zwei Kriegen nur mit äußerster Anstrengung niederringen konnten.

Abschied von der Bonner Republik

Das erste wichtige Datum auf diesem Weg markiert der Beschluss über die künftige Hauptstadt der Deutschen. Am 20. Juni 1991 entschied das deutsche Parlament mit der knappen Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen, das einst geteilte Berlin wieder zum Sitz von Bundestag und Bundesregierung zu machen. Das politische Zentrum lag mit einem Mal nicht mehr am Rhein, sondern an der Spree weit im Osten. Statt des rheinischen Katholizismus gibt ein säkularer Protestantismus den Ton an. Ein Ostdeutscher ist Bundespräsident, eine Ostdeutsche Bundeskanzlerin.

Den deutlichsten Abschied vom Bild der alten Bonner Republik nahm indes der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Nachdem er erst den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 bedingungslose Solidarität zugesichert hatte, entsetzte er den Verbündeten mit seinem kategorischen Nein zur Invasion in den Irak. Es war weniger der Streit über den Einsatz, als eher die brüske Art, wie Schröder seinen Partner aus Übersee vorführte. Er wetterte gegen das "amerikanische Abenteuer im Irak". Eine Wortwahl, die an die Sowjet-Attacken auf die USA zu Zeiten des Kalten Krieges erinnerte.

In einem folgte Schröder allerdings der angelsächsischen Welt. Er veränderte den rheinischen Kapitalismus, jenes einzigartige Zusammenspiel von Gewerkschaften, Arbeitgebern, Banken und gesellschaftlichen Gruppen, das das wirtschaftliche Leben in Deutschland so eindrücklich prägte, mehr als jeder andere Kanzler vor ihm. Mit seinen Gesetzen zur Liberalisierung des deutschen Arbeitsmarkts zettelte der SPD-Politiker eine innenpolitische Revolution an, die der SPD das Genick brach und ihn letztlich um die Kanzlerschaft brachte. Seitdem ist der Arbeitsmarkt in Deutschland so frei wie sonst nur in Ländern wie den USA oder Großbritannien.

In der Nato viel Kredit verspielt

Noch einschneidender als in der Innenpolitik hat sich die Stellung Deutschlands ausgerechnet in den Institutionen geändert, die einst den deutschen Expansionsdrang eindämmen sollten: Nato und Europäische Union (EU). In der Nato hat Deutschland zwar mit seiner Weigerung, etwa an Kampfeinsätzen in Libyen teilzunehmen, viel Kredit verspielt.

Dafür ist die Position der Bundesrepublik in der EU umso dominierender. Die hemmungslose Verschuldung der Südländer, die Deindustrialisierung Großbritanniens und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs haben Deutschland an die Spitze Europas gebracht, auch dank der im Gefolge der Einheit gestiegenen Bevölkerungszahl.

"Wir sind jetzt die führende Macht in Europa und entsprechend unbeliebt", meint dazu sarkastisch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Sie ist mächtiger als je einer ihrer Vorgänger. Selbst das Duo Berlin/Paris begegnet sich nicht mehr auf Augenhöhe. Gerade das war aber über Jahrzehnte die Bedingung für Fortschritt in Europa und die Triebfeder der deutsch-französischen Freundschaft.

Bislang kaschieren die Verantwortlichen in Berlin und Paris das fundamentale Ungleichgewicht. Die Bevölkerung beider Länder hat es indes schon erkannt. Mehr als zwei Drittel der Franzosen und Deutschen sehen Berlin als klare Nummer eins in Europa. Die politische Elite in Frankreich wird das nicht sonderlich erfreuen.

Merkel — die mächtigste Frau in Europa

Deutschland im Jahr 2013 hat sich vom Deutschland des Jahres 1989 mehr als nur im Umfang verändert. Die alten Koordinaten stimmen nicht mehr. Noch haben sich keine tiefen Ressentiments gegen die neue europäische Führungsmacht eingegraben. Die bisweilen harschen Töne in der Schuldenkrise bieten gleichwohl einen Vorgeschmack.

Und es ist nur der eher zurückhaltenden und auf Ausgleich bedachten Politik der mächtigsten Frau Europas zu verdanken, dass diese nicht in Aversionen umschlagen. Deutschland tastet sich weiter in die neue Rolle hinein. Wehe, einer der Nachfolger Merkels gibt diesen Kurs auf. Dann könnten die Kräfte der Unordnung rasch die derzeitige Stabilität untergraben.

(RP/das/csi)
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