Trend zu Bürgerbeteiligung Segen und Fluch der Basisdemokratie

Analyse | Düsseldorf · Die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger gewinnt immer stärker an Zustimmung. Selbst konservative Parteien wie die CDU lassen Mitglieder über ihren Vorsitzenden abstimmen. Doch es gibt auch Fallen.

 Die Statue von Willy Brandt ist hinter einem Rednerpult mit der Aufschrift „Mitgliedervotum“ in der SPD-Parteizentrale zu sehen (Archivfoto).

Die Statue von Willy Brandt ist hinter einem Rednerpult mit der Aufschrift „Mitgliedervotum“ in der SPD-Parteizentrale zu sehen (Archivfoto).

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Es ist oft die Not, die zu Veränderungen führt. Bei der Frage, wie viel direkte Demokratie nötig und möglich ist, verhält es sich nicht anders. Als die internen Widerstände in der SPD gegen eine Neuauflage der großen Koalition im Jahr 2013 zu stark wurden, entschieden sich Parteichef Sigmar Gabriel und sein Vorstand dazu, die Mitglieder zu befragen. Es war die erste dieser Art in der Parteiengeschichte der Bundesrepublik. Das Mitgliedervotum zur gleichen Frage wiederholte sich 2018, ein Jahr später wählten die Genossen ihre neuen Chefs in direkter Wahl.

Sogar die konservative CDU hat die Basisdemokratie entdeckt. Vor der endgültigen Wahl durch einen Parteitag sollen die Mitglieder gefragt werden, wem der drei Bewerber sie den Vorzug geben. Das dürfte bindend sein. Auch sonst ist im Lande eine Stimmung entstanden, die nach mehr Bürgerbeteiligung verlangt. Die Initiative Abstimmung 21 fordert die Aufnahme von Volksentscheiden in den neuen Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP. Dabei sind ausgerechnet die Grünen als Partei der Basisdemokratie fast ein wenig ins Hintertreffen geraten. Volksentscheide auf Bundesebene lehnen sie ab, aber für Bürgerräte bei wichtigen Gesetzesvorhaben sind sie wie SPD und Liberale offen. Zugleich machen sie umso mehr mobil für Bürgerbeteiligungen in Kommunen und auf Landesebene.

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Nicht immer geht es dabei zugunsten der Grünen aus. Ein bekanntes Beispiel ist das Drama um das Verkehrsprojekt zur Neuordnung des Eisenbahnknotens in Stuttgart, besser bekannt S 21. Das Mammut-Vorhaben, das erstmals 1994 der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, avancierte zur größten Kostenfalle der Republik. Als die Bauarbeiten des Milliardenprojekts endlich im Februar 2010 starteten, musste die Polizei den Festakt gegen wütende Demonstranten schützen.

Die Lösung: ein Referendum. Am 27. November 2011 waren 7,6 Millionen Baden-Württemberger zur Volksabstimmung aufgerufen. 58,9 Prozent der Abstimmenden sprachen sich gegen den Ausstieg des Landes aus der Projektfinanzierung von Stuttgart 21 aus, 41,1 Prozent stimmten für den Ausstieg. Zudem verfehlten die Projektgegner das Quorum von einem Drittel der Stimmberechtigten um eine Million Stimmen. Dennoch: Die Abstimmungsbeteiligung war mit 48,3 Prozent überraschend hoch. Die schwarz-grüne Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann verstand das Signal. Heute haben sowohl Stadt als auch Land Bürgerbeauftragte, um rechtzeitig von Sorgen und Nöten der Bevölkerung zu erfahren.

Vielleicht sind es gerade die überraschenden und wenig vorhersehbaren Ergebnisse von Volksentscheiden, die manche Politiker stutzig machen. Aber auch Wissenschaftler, die die Wirkung von demokratischen Entscheidungen erforschen, machen Bedenken geltend. „Weil jeder einzelne Bürger nur einen sehr kleinen Einfluss auf das Wahlergebnis hat, hat er keinen Anreiz, sich hinreichend zu informieren“, wirft Wirtschaftsprofessor Thomas Apolte ein, der an der Universität Münster Politische Ökonomie lehrt. Vor allem bei komplizierten Sachverhalten ist das problematisch. Das Ergebnis, so der Ökonom, könnte nicht mehr das widerspiegeln, was die Bürger eigentlich wünschen.

Doch es gibt auch andere Gründe für mehr Bürgerbeteiligung. In Bayern macht sich immer wieder das Volk in direkten Abstimmungen gegen Entscheidungen der vermeintlichen Staatspartei CSU Luft – zuletzt beim Volksbegehren „Rettet die Bienen“. Die Wucht der Initiative war so gewaltig, dass die Landesregierung unter Ministerpräsident Markus Söder (CSU) den Entwurf eins zu eins übernahm, ehe ihn der Landtag beschloss. „Referenden sind ein Gegengewicht gegenüber den Entscheidungen gewählter Gremien“, findet auch der Polit-Ökonom Apolte. „Das ist ein zusätzlicher Schutz gegen Machtmissbrauch.“ Denn Delegierte und Parlamentarier folgen oft eigenen Interessen oder geben organisierten Lobbygruppen mit Sonderwünschen zu viel Einfluss auf politische Entscheidungen.

Ein anderes Beispiel ist der jüngste Streit um das Thema Wohnungsnot in Berlin. Per Volksentscheid wurde am 26. September über einen Antrag der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ abgestimmt. Ziel der Initiative war es, Unternehmen, denen mehr als 3000 Wohnungen gehören, nach Artikel 15 Grundgesetz zu vergesellschaften. Das Ergebnis: 56,4 Prozent der Berliner sprachen sich für die Vergesellschaftung der Immobilienkonzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen aus, 39 Prozent dagegen. Das notwendige Quorum von mindestens 25 Prozent wurde deutlich überschritten. Das Problem: Dem Volksentscheid lag kein konkreter Gesetzentwurf zugrunde. Jetzt ist offen, was daraus rechtlich folgt; eine Expertenkommission hat die Arbeit aufgenommen.

Hier werden in einer komplexen Frage Erwartungen erzeugt, die offenkundig nicht erfüllt werden können, zumal das Eigentumsrecht der Initiative einen Strich durch die Rechnung machen dürfte. Die repräsentative Demokratie, in der die Bürger ihre politische Macht an gewählte Vertreter übergeben, ist offenbar dafür besser geeignet, zumal Korrekturen und Kompromisse hier möglich sind. Aber daneben haben bei konkreten und transparenten Entscheidungen direkte Beteiligungen der Menschen durchaus ihren Wert.

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