Meinung Die große Politisierung

Wenn eine Debatte in Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders brisant oder grundsätzlich wird, dann heißt es gern abwehrend, Politik habe doch hier nichts zu suchen. Das ist ein Fehlschluss, erst recht in diesen aufgeregten Zeiten.

Wähler bei der Bundestagswahl 2017 in Unterwössen (Bayern).

Wähler bei der Bundestagswahl 2017 in Unterwössen (Bayern).

Foto: dpa/Sven Hoppe

Hilfe, wir werden politisiert! Überall macht sich diese Politik breit! Auch da, wo sie gar nicht hingehört! Diesen Eindruck kann gewinnen, wer jüngst genauer hingehört hat. Mesut Özil legte im Sommer Wert darauf, sein fatales Foto mit Recep Tayyip Erdogan habe keine politische Botschaft gehabt. Der Verband der Historiker sah sich Vorwürfen der Politisierung von Geschichte ausgesetzt, weil seine Mitglieder auf dem Historikertag eine Resolution „zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ verabschiedeten, die sich erkennbar gegen rechtspopulistische Umtriebe richtete.

Umgekehrt wird von konservativer Seite gern den Kirchen, vor allem der evangelischen, (Tages-)Politisierung vorgeworfen, neulich pauschal von CDU-Vize Julia Klöckner und konkret auf der erzkatholischen Website Katholisches.info dem Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff, der Hass gegen Flüchtlinge beklagt hatte. Das Land Sachsen-Anhalt sah in der Einladung der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet zum Bauhaus-Jubiläum nach Dessau eine Politisierung des Konzerts. Der ausgeschiedene Verfassungsrichter Michael Eichberger warnte vor einer Politisierung seines Gerichts, sollte die Auswahl seiner Kollegen als „politisches Postengeschachere“ überkommen.

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Allen Beispielen gemeinsam ist jedoch, dass Politisierung als schlecht gilt, nach dem Motto: Politik ist hier schädlich. Hinzu kommen Feststellungen wie die des SPD-Politikers Boris Pistorius vom Februar: „Die Menschen sind politisiert“ oder der Deutschen Presse-Agentur, die Ende September eher beiläufig von „allgemeiner Politisierung“ schrieb.

Das wirft zwei Fragen auf: Stimmt das? Und: Gehört die Politik in ein Gehege, außerhalb dessen sie nichts zu suchen hat und nur Schaden anrichtet?

Um es kurz zu machen: ja (erste Frage) und nein (zweite Frage). „Politisierung“ ist nicht exakt bezifferbar, aber es gibt Indizien – über die gefühlte Wahrheit hinaus, dass neuerdings, nach Angela Merkels Rückzugsankündigung erst recht, wieder mehr über Politik diskutiert wird: nämlich die Mitgliederzahlen der Parteien und die Wahlbeteiligung. SPD, Grüne, Linke und FDP legten seit 2016 zu, die AfD sowieso. Und die Wahlbeteiligung ist nicht nur bei allen Landtagswahlen seit 2016, sondern auch bei der jüngsten Bundestagswahl gestiegen, teils massiv – außer zuletzt in Hessen, aber da war 2013 auch die Landtags- mit der Bundestagswahl zusammengefallen.

Auf drohenden Untergang muss das nicht deuten; eher darauf, dass es in den Augen der Bürger um viel geht. Darauf fußt im Kern auch der Erfolg der AfD: als professoral-wirtschaftsliberales Gewächs der Euro-Krise, Jahre bevor die Rechten den Laden übernahmen.

Man kann dieses „Wenn es um viel geht“ auch wissenschaftlicher fassen. Schon 1953 machte sich der Politikwissenschaftler David Easton Gedanken, was Politik eigentlich ist. Seine Antwort: Handlungen, durch die in einer Gesellschaft verbindlich Werte zugewiesen werden. Mit anderen Worten: Die Politik legt fest, was geht und was nicht, was vorrangig ist. Politik sei, sagte Easton, „pervasiv“: Sie durchdringt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

Und wer es noch grundsätzlicher mag: Im antiken Athen, wo die Demokratie zumindest mit erfunden wurde (auch wenn ihre Form, die auf Sklavenhaltung gründete, uns heute eher abstoßend erscheint), war die Volksversammlung eine Sache aller, allerdings nur aller Männer. „Politik“, das sind nach der Wortbedeutung die Angelegenheiten des Stadtstaats. Alles ging alle direkt an. Das funktioniert in einem überkomplizierten Großgebilde wie der Bundesrepublik nicht mehr, aber die Idee ist klar: Politisierung, also verstärkte Teilnahme am politischen Prozess, ist buchstäblich im Sinne des Erfinders.

Das begründet auch schon das Nein auf die zweite Frage: Politik ist nun mal überall, in einer freiheitlichen Demokratie kann man sich ihr nicht entziehen. Wenn Özil behauptet, sein Foto sei keine politische Botschaft gewesen, ist das entweder grenzenlos naiv oder sehr dreist. Die Mitglieder des Historikerverbands geben ihre Rolle als wahlberechtigte Bürger nicht an der Garderobe des Hörsaals ab. Die Kirchen werden kaum zur Tagespolitik schweigen können (dann allerdings müssen sie auch theologisch fundierter argumentieren). Das Bauhaus war schon in den 20er Jahren den Rechten ein Dorn im Auge, was unter anderem zum Wegzug aus Weimar führte. Und die Richter am Bundesverfassungsgericht werden nun mal nach Parteienproporz nominiert und vom Parlament bestimmt; wer da vor Politisierung warnt, offenbart eher eigenen Dünkel als berechtigte Sorge.

Die Zeiten der asymmetrischen Demobilisierung jedenfalls sind lange vorbei. Stellt sich eine letzte Frage: Was ist von einer Politisierung zu halten, die (auch) dazu führt, dass im Bundestag fast 100 Abgeordnete einer Partei sitzen, die teils rassistisches, antisemitisches, den Nationalsozialismus verharmlosendes Gedankengut verbreiten? Man wird schlecht „Nichts“ antworten können, denn das wäre gedankliche Oligarchie. Die politische Gemütslage des Landes gehört in den Parlamenten abgebildet – unbeschadet sinnvoller Regelungen wie der Fünfprozenthürde und solange die Parteien, die diese Gemütslage abbilden, sich nicht daranmachen, die freiheitliche Grundordnung abzuschaffen. Wenn die AfD ihr trübes Weltbild in die Parlamente trägt, steigt am Ende die Chance, dass die anderen sich ernsthaft mit den Gründen beschäftigen, die die Neuen großgemacht haben.

Die AfD als Korrektiv des politischen Diskurses zu bezeichnen, täte ihr zu viel der Ehre an; eher sind ihre Wahlergebnisse wie die Kurve eines Seismografen: Sie zeigen, dass etwas in Bewegung ist. So ein leichtes Beben fühlt sich unheimlich an, ist aber ein ganz normaler Vorgang. Man darf darüber nur nicht das Gleichgewicht verlieren.

(fvo)
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