Krisensitzungen in Berlin Koalition wackelt nach Nahles-Rücktritt

Berlin · Die SPD-Chefin sieht keinen ausreichenden Rückhalt mehr und zieht sich überraschend aus der Bundespolitik zurück. Die Union verlangt vom Partner ein klares Bekenntnis zur großen Koalition.

Nach dem Rücktritt von SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles hat die Union ihren Koalitionspartner beschworen, für Stabilität zu sorgen und am Regierungsbündnis festzuhalten. Die SPD-Führung beriet am Abend darüber, wer kommissarisch übernehmen soll. Eine Mehrheit will den für Dezember geplanten Parteitag vorziehen und dann die komplette Parteiführung neu wählen. Politiker aus vielen Lagern zollten Nahles ihren Respekt. SPD-Vize Malu Dreyer sagte, ihre Partei befinde sich in einer „extrem ernsten Situation“. Der hessische SPD-Landeschef Thorsten Schäfer-Gümbel warnte vor „Schnellschüssen“. Auch eine Neubestimmung des Parteivorsitzes per Urwahl kam ins Gespräch.

Ihre Entscheidung begründete Nahles in einem Schreiben an die Parteimitglieder damit, dass „der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da“ sei. An diesem Montag will sie dem Parteivorstand, am Dienstag der Fraktion weitere Begründungen liefern. Mit ihrer Landesgruppe will sie besprechen, wann sie auch ihr Bundestagsmandat abgibt und sich vollständig aus der Bundespolitik zurückzieht.

Die Kritik an Nahles war nach den Europawahlen nicht mehr abgerissen, bei denen die SPD mit 15,3 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis auf Bundesebene erhalten hatte. Zugleich war die SPD in Bremen erstmals nicht mehr stärkste Partei geworden. In Umfragen stürzt die Partei weiter ab. In dieser Situation hatte Nahles zunächst die Flucht nach vorne angetreten und wollte sich in dieser Woche in der Fraktion zur Wiederwahl stellen. Doch dann machte ihr eine vorbereitende Beratung in der Fraktion offenkundig klar, wie wenige Genossen noch hinter ihr standen. Da half es auch nichts, dass die stellvertretenden Vorsitzenden sich um erneute Unterstützung bemühten.

Vizekanzler Olaf Scholz verwies darauf, dass sich seine Partei nicht erst seit den Europawahlen in einer schwierigen Lage befinde. Juso-Chef Kevin Kühnert bedauerte den Umgang der vergangenen Tage und Wochen in der SPD. „Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben“, schrieb Kühnert auf Twitter und fügte hinzu: „Ich schäme mich dafür.“ Die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli beschwor die SPD, „endlich aufzuhören, hässlich, bösartig und hinterlistig miteinander umzugehen“.

Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Nahles mit den Worten: „Sie ist Sozialdemokratin mit Herzblut, das kann man sagen. Aber ich finde, sie ist auch ein feiner Charakter.“ Sie habe mit ihr immer vertrauensvoll zusammenarbeiten können. Merkel erklärte, sie habe Respekt vor den Entscheidungen, die die SPD nun zu treffen habe. Zugleich versicherte die Kanzlerin: „Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit, und vor allen Dingen auch mit großem Verantwortungsbewusstsein.“ Die zu lösenden Themen lägen auf dem Tisch, sowohl in Deutschland, wie in Europa und der Welt.

Der Nahles-Rücktritt versetzte auch die NRW-Landespolitik in Aufregung. Ein Auseinanderbrechen der Koalition beträfe auch für NRW wichtige Themen wie den gerade mühsam ausgehandelten Kohle-Kompromiss, den Stadtbahn-Ausbau oder die Reform der Grunderwerbssteuer. Vor diesem Hintergrund sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) unserer Redaktion: „Die SPD wird gewählt, wenn sie Probleme löst und nicht nur Vorschläge macht. Das geht am besten, wenn sie weiter mitregiert.“

Der NRW-Landeschef der SPD, Sebastian Hartmann, sieht die Sozialdemokratie „vor einer tiefgreifenden Umwälzung“. Das werde ein langer Weg. Um ihn zu bewältigen, wünschte sich Hartmann „mehr gemeinsame und weniger einsame Entscheidungen“. Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel mahnte eine Versöhnung an und sagte: „Die SPD braucht eine Entgiftung“.

Wie Nahles war auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer unter Druck geraten. Vor Beginn einer CDU-Klausur sagte sie, die Union stehe weiter zur großen Koalition. Diese sei aber „kein Selbstzweck“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt forderte von der SPD ein „klares Bekenntnis zur Koalition“.

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