Debatte um Helmpflicht und Co. Die Deutschen am Gängelband

Düsseldorf · Wenn der Staat versucht, seine Bürger zu belehren und zu "bessern", droht Erziehungsdiktatur. Niemand sollte sich anmaßen, erwachsene Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Die Helmpflicht für Radfahrer ist da nur ein Beispiel.

Helmpflicht - Bundesgerichtshof stärkt das Recht auf Unvernunft - Pressestimmen
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Helmpflicht - das Gericht stärkt das Recht auf Unvernunft

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Foto: dpa, rho pzi

Helmpflicht für Radfahrer? Ja oder nein? Pah! Als wenn die Menschheit nichts Wichtigeres bedrängte. Den jäh verstorbenen "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher, dem wunderbare Nachrufe gewidmet wurden, kümmerte das Kleinteilige einer politischen Debatte herzlich wenig; die großen Linien beschäftigten das Vorstandsmitglied der Geistigen Republik Deutschland dafür umso mehr.Die Freiheit zum Beispiel war Schirrmachers Lebensthema, wie "FAZ"-Kollege Nils Minkmar schrieb. Nie sei Schirrmachers Freude daran ermüdet zu sehen, wie Menschen sich ihrer Freiheit bedienten. Zur Wahrheit zählt, dass er wie kein deutscher Zeitgenosse sonst die Bedrohung unserer Freiheit durch den Datenkapitalismus als neuer apokalyptischer Reiter beschworen hat.

"Die Freiheit nehm' ich mir" - so lautete der Werbeslogan einer Kreditkartenfirma. Gute Reklamesprüche sind geronnener Zeitgeist. Freiheit und Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen stehen demnach hoch im Kurs. Somit müsste es rauschenden Beifall geben auch für eben jene Freiheit des Ski- oder Radfahrers, ohne Kopfschutz Pisten beziehungsweise Wege zu befahren. Gibt es aber nicht oder nur verhalten. Die Deutschen lieben das Reglement, das feste Regelwerk und die staatliche Kontrolle desselben. Wenn man nicht gerade auf einer Party unter Alt-68ern ist, in deren Grauköpfen es nostalgisch von freier Liebe und freiem Leben schwirrt, wird man feststellen: Sicherheit und Ordnung sind den lieben Landsleuten mindestens so wichtig, wie es die Freiheit ist.

Die Radlerin ist nicht typisch deutsch

Ein "Im Zweifel für die Freiheit" mag ein früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts proklamieren. Dass das Mehrheitsmeinung ist, muss bezweifelt werden. Wehe, es hätte sich herausgestellt, der arme Michael Schumacher sei bei seinem Skiunfall vor Silvester ohne Helm unterwegs gewesen. In das allgemeine Mitgefühl mischte sich bis zum heutigen Tag ein schulmeisterliches "So nicht, Schumi!" und "Wie konntest du!" Die ärztliche Aussage, ohne Helm hätte es Schumacher nicht mehr lebend bis ins Hospital geschafft, nahm das Heer der Schulmeister zum Anlass, eine gesetzliche Helmpflicht für Skifahrer zu fordern. Motto: Man muss die Menschen notfalls zu ihrem Glück zwingen. Da klingt Vergangenes nach, denn früher hieß es in deutschen Familien mit strengen Erziehungsmethoden, der aufmüpfige Spross müsse "zur Räson" gebracht werden.

Die 61 Jahre alte Radlerin, die ohne Helm unterwegs war, unverschuldet zum Unfallopfer wurde und jetzt vom Bundesgerichtshof den ungeminderten Schadensersatzanspruch gegen die Versicherung des Schädigers bestätigt bekam, ist insofern nicht typisch deutsch. Sie nimmt sich weiterhin die Freiheit heraus, ohne Schutzhelm aufs Rad zu steigen, auch wenn das bei objektiver Betrachtung unvernünftig ist.

Da Freiheit auch das Recht ist, den Leuten zu sagen, was sie nicht hören wollen, hier nun dies Plädoyer: Man achte die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit; aber man reite das in Deutschland ohnehin gut gesattelte Sicherheits-Ross nicht zu Tode. Wir sollten uns nicht so sehr an die fürsorgliche Belagerung durch den Staat gewöhnen und sie uns erst recht nicht in noch mehr Lebensbereichen herbeiwünschen.

Es war ein erfreuliches Zeichen deutschen Freiheitssinns, dass Renate Künasts Kuriositäten-Vorschlag aus dem Grünen-Wahlkampf 2013, tunlichst einen vegetarischen Wochentag einzulegen, auf Spott und Ablehnung stieß. Nicht weil man einer Politikerin mit Bevormundungsdrang das Grundrecht auf Meinungsäußerung bestreiten mochte, sondern weil ein freier Bürger sich nur um den Preis der Selbstverzwergung seine Lebensgewohnheiten diktieren lassen kann; immer vorausgesetzt natürlich, dass diese keinem Dritten Schaden zufügen.

Vom Rauchen bis zur gesunden Ernährung

Dem leidenschaftlichen Raucher zu verbieten, im Restaurant zu qualmen, dem Motorradfreak gesetzlich aufzugeben, einen Sturz(!)-Helm zu tragen, Autoinsassen eine Anschnallpflicht aufzugeben und dem Wagenlenker Handy-Quasselei per Bußgeld auszutreiben - das ist sinnvoll, und es entspricht mittlerweile gewachsener Überzeugung aller "billig und recht Denkenden".

Jedoch: Lassen wir uns nicht von freiwilligen oder besoldeten Aufpassern, von Beauftragten für gesunde Lebensführung in die Töpfe gucken, ob genug Gemüse gekocht wird und der Teller eine bestimmte Salatquote aufweist. Herrlich dazu die Sottise des freiheitlich gesinnten, unvergessenen Publizisten Johannes Gross: "Wenn das Leben schon gar keinen Spaß mehr macht, soll es wenigstens lange dauern."

Lassen wir souverän Rat-Schläge außer Acht, Schnaps nach dem Essen sei Magenvergiftung, Sahnetorten-Verzehr im Freien anstößig, Rauchen im eigenen Heim eine Form asozialen Benehmens, das nach gesetzlicher Missbilligung schreie, und Radeln ohne Helm widernatürlich leichtfertig. Grundsätzlich gilt: Obacht vor Wendungen, dieses oder jenes "gehöre eigentlich verboten". Es wird immerzu unterbeschäftigte politische Fundamentalisten geben, die daraus den Schluss ziehen: Dann verbieten wir's am besten auch gleich.

Der Staat ist zuallererst da, um Sicherheit zu garantieren

Die Infantilisierung der Gesellschaft, die sich an manchen Phänomenen der Massenunterhaltung ablesen lässt, vergrößert die Gefahr staatlicher Bevormundung. Das Kind benötigt zum Großwerden und Überleben elterlichen Schutz und Schirm und, wenn dieser versagt, staatliche Sorge. Aber Erwachsene, denen der Laufstall als Bewegungsraum genügt, die viel staatliches Reglement erwarten, gar einklagen oder infantil herbeijammern: Die machen sich klein und den Obrigkeitsstaat gewollt oder ungewollt groß.

Der Staat ist zuallererst da, um Sicherheit zu garantieren: Verteidigung des Rechtsstaates im Allgemeinen und der Verfassung im Besonderen. Ganz wichtig die Landesverteidigung, denn nach einem alten Spruch lassen sich keine Bilder aufhängen, wenn das Haus wackelt. Staatsaufgabe ist es nicht, seinen Bürgern vorzuschreiben, wie sie ihr Leben tunlichst zu gestalten haben; sie zu beschwatzen, was ihnen guttut beziehungsweise mutmaßlich Schaden zufügt. Wenn der Staat versucht, seine Bürger zu belehren, zu gängeln, zu "bessern", droht Erziehungsdiktatur.

(mic)
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