Analyse Die deutsche Sorge vorm Kinderkriegen

Düsseldorf · Wann, wenn nicht jetzt? Das fragen sich viele Frauen, die ein Baby wollen. Oft heißt es dann: Den richtigen Zeitpunkt gibt es nicht. Denn beim Kinderwunsch spielen Partner, Beruf und die innere Einstellung eine wichtige Rolle.

 Wann, wenn nicht jetzt? Frauen zögern, wann der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist.

Wann, wenn nicht jetzt? Frauen zögern, wann der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist.

Foto: dpa, ppl fdt wst

Die Routineuntersuchung beim Arzt ergibt: alles bestens. Und dann sagt der Frauenarzt plötzlich: "Schauen Sie mal, da sind ein paar Eier, die bereit sind, befruchtet zu werden. Man sollte nicht zu lange damit warten, schwanger zu werden." Eine Binsenweisheit. Die meisten Frauen zwischen Ende 20 und Mitte 30 werden sie schon einmal gehört haben. Sie wird in etwa so gerne gepredigt wie der Satz: "Den richtigen Zeitpunkt zum Kinderkriegen gibt es nicht."

Die deutsche Kleinfamilie mit Mutter, Vater und einem Kind hat sich seit den 70er Jahren zur Norm entwickelt. In Europa gibt es nur zehn Länder, in denen die Geburtenziffer - also die Anzahl der Kinder pro Frau - niedriger ist als in der Bundesrepublik mit 1,36. Lettland ist mit einer Quote von 1,17 Schlusslicht, Island führt die Statistik mit 2,2 Kindern an. "Ihr Kinderlein kommet". In Deutschland bleibt diese alte Liedzeile seit Jahren ein frommer Wunsch. Auch, weil jedem zweiten Kinderlosen der geeignete Partner fehlt, um eine Familie zu gründen, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa ergab. Aber selbst mit dem richtigen Partner rückt der "richtige" Zeitpunkt für viele Frauen immer weiter nach hinten.

Deutsche Frauen sind bei der Geburt ihres ersten Kindes heutzutage im Durchschnitt knapp 30 Jahre alt, fünf Jahre älter als 1960. Der Anteil derjenigen, die ihr erstes Kind mit mindestens 35 Jahren gebären, ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit 1990 von fünf auf 22 Prozent gestiegen. Auf den ersten Blick scheint das logisch: Die menschliche Lebenserwartung steigt seit Jahrzehnten, die Familiengründung verschieben viele oft unbesorgt auf später. Zumal sich jungen Frauen heute Perspektiven eröffnen, von denen ihre Großmütter nur träumen konnten: Abitur machen, studieren, für ein paar Jahre ins Ausland gehen, an der Karriere basteln - besonders Akademikerinnen fällt es da oft schwer, sich früh(er) für ein Kind zu entscheiden. Und so gilt mittlerweile die Regel: je höher der Bildungsstand, desto geringer die Zahl der Kinder, desto später der Nachwuchs.

Das ist schade, denn junge Eltern haben es in vielerlei Hinsicht leichter: Sie haben mehr Energie, sind weniger ängstlich und weniger angespannt, weil ein Baby für sie kein Projekt ist, das ihr Leben krönen soll. Außerdem haben sie noch sehr fitte Großeltern, die als Netzwerk unersetzbar sind. Doch der Eltern-Job ist hart, er fordert 24 Stunden Einsatz, er bedeutet Verzicht auf Konzerte, Kino, Partys. Und so bleiben Fragen offen: Sind junge Eltern schon reif genug, um die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen? Reicht das finanzielle Polster, um sich Kinderbetreuung und Urlaube leisten zu können? Und was bleibt von den gesteckten Karrierezielen übrig?

Für viele ist es ein Risiko, ohne festen Arbeitsvertrag das erste Kind in die Welt zu setzen - nicht nur, weil man sich damit um ein höheres Elterngeld als Lohnersatzleistung bringt, sondern auch, weil die Festanstellung noch der beste Garant dafür ist, nach der Elternzeit auch weiterbeschäftigt zu werden. Auch das Vaterwerden kann heutzutage einem Bußgang gleichen: Die Frau kann nicht mehr voll arbeiten - weil es keine Krippe für das Kind gibt, weil in ihrer Firma Arbeitszeiten bis nach 18 Uhr normal sind. Er dagegen macht Überstunden im Büro - um ihren Gehaltsverlust wettzumachen. Wenn er dann nach Hause kommt, ist sie unzufrieden, weil er nie für die Kinder da ist.

Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) aus dem Jahr 2012 bekommen deutsche Frauen vor allem so spät Kinder, weil sie Angst vor der Überforderung haben. Viele würden sich mit ihrem Kinderwunsch in der Zwickmühle sehen: Die wenigsten wollen das Hausfrauenmodell - doch auch ein Leben mit Kindern erscheint ihnen als Überforderung. Familienleben und Karriereplanung passen oft nicht zusammen, gute Krippenplätze sind rar, das Etikett Rabenmutter ist allgegenwärtig. "In einer solchen Situation werden Entscheidungen gegen Kinder begünstigt", schreiben die Forscher.

Jürgen Dorbritz, wissenschaftlicher Direktor des BiB, erkennt darin auch das "Leitbild des deutschen Perfektionismus": Alles muss gelingen. Beziehung, Finanzen, Beruf, Kinder. "Wenn etwas nicht so läuft wie erwünscht, dann fühlen sich viele gleich als Versager." Das findet der Wissenschaftler falsch: "Es gibt nie den perfekten Zeitpunkt." Perfektionisten stünden sich selbst im Wege. Wer Familie mit dem Beruf vereinbare, dürfe eben nicht als Rabenmutter gelten. Was heißt das für die Politik? Familien sollten nicht nur Eltern- und Kindergeld bekommen, sondern schon früh einen Kita-Platz erhalten und flexibel arbeiten können, so Dorbritz.

Die Selbstverwirklichung in jungen Jahren wird zudem oft überschätzt. Vor allem birgt sie die Gefahr, sich endlos hinzuziehen. "Wer älter als 35 Jahre ist, muss jedoch wissen: Je länger man es hinausschiebt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich der Kinderwunsch erfüllt", sagt Bettina Toth, Leiterin der Kinderwunschambulanz an der Uniklinik in Heidelberg. Die Zahl der befruchtungsfähigen Eizellen nehme mit dem Alter ab. Wer auf natürlichem Wege nicht schwanger wird, habe bei künstlicher Befruchtung die besten Chancen vor dem 35. Geburtstag, betont Toth.

Familienpsychologe Matthias Petzold hält auch die innere Einstellung für einen wichtigen Gradmesser, um der Antwort auf die Babyfrage näherzukommen. "Die Spielräume sind größer geworden. Das bedeutet aber auch, ich muss mir darüber klar werden, was ich will und das mit meinem Partner abgleichen."

In einem perfekten Land könnten schlaue Frauen alles, was schlaue Männer können - auch Karriere machen. Und sie könnten dabei Kinder haben. Zwei, drei oder mehr. Es gibt solche Länder. In Norwegen etwa arbeiten Männer und Frauen im Schnitt rund 35 Stunden pro Woche und verlassen am Nachmittag ihren Arbeitsplatz, um sich ihren Kindern zu widmen. Und trotzdem sitzen inzwischen 40 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der rund 600 norwegischen börsennotierten Unternehmen. Die Regierung hatte die Quote 2003 per Gesetz vorgegeben.

Muss sich Deutschland also wandeln? Ja - von einem Land, in dem kein Zeitpunkt zum Mutterwerden ideal ist, zu einem, in dem diese Entscheidung immer eine gute ist. Egal, ob mit 20, 30 oder 40. Alles, was diesem Ziel entgegensteht, gehört auf den Prüfstand. Dabei liegt es nicht allein an den Frauen, Veränderung zu realisieren. Wer sie willkommen heißt, heißt auch Kinder willkommen - und setzt damit auf die Zukunft.

(RP)
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