Union und SPD und das Netz Die analoge Koalition

Berlin · Tablets für jedes Schulkind, Breitbandausbau, W-Lan für alle. Und nun auch noch ein Internetminister? Union und SPD geben sich Mühe, den digitalen Wandel offensiv zu gestalten. Doch der ganzheitliche Ansatz für die historische Zäsur fehlt.

Was alle 60 Sekunden im Internet passiert
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Foto: afp, JOHN MACDOUGALL

In der Gliederung für den Koalitionsvertrag, so etwas wie die politische Prioritätenliste der künftigen schwarz-roten Koalitionäre, ist die Revolution nur Randthema. Unter Punkt 4.4. heißt es dort: "Chancen der Digitalisierung".
Die Herzensanliegen von Union und SPD haben Vorrang: Industriepolitik, Rente, Energiewende, Frauenquote, Mindestlohn, Infrastruktur. Die öffentlichen Aussagen spiegeln dies wider. Es geht um Pkw-Maut, Mütterrente, Energiepolitik. Begründete Vorhaben, sicher. Doch jener Prozess, der Wirtschaft, Politik, ja die Gesellschaft verändert wie kein zweiter, die digitale Revolution, spielt bislang eine Nebenrolle.

In einer Unterarbeitsgruppe, besetzt mit zwölf kaum bekannten Politikern, will Schwarz-Rot eine digitale Agenda erarbeiten. Darin wird etwa gefordert, dass jedes Schulkind einen Tablet-PC bekommen soll, der Breitbandausbau beschleunigt und die IT-Ausbildung verbessert werden soll. Der Deutsche Computerspielpreis soll weiterentwickelt werden. Ebenso neue Finanzierungsmodelle für Start-ups.

Alles wichtig. Doch wirken die Ideen angesichts der Dimension der Herausforderung putzig. In diesem Jahr werden die Bürger in den USA mehr Zeit online als vor dem Fernseher verbringen. Die soziale Zäsur des Web 2.0 verändert das Kommunikationsverhalten einer ganzen Generation. Was für Angela Merkel "Neuland" ist, beherrscht den Alltag von Millionen. Schon Zweijährige streichen wie selbstverständlich über ihr Smartphone, der Umgang mit mobilen Geräten und funkelnden Displays in Küche, Auto, Bad und Büro ist gelebte Kulturtechnik wie einst das Bedienen der Wählscheibe. In Deutschland besitzt jeder zweite Handynutzer ein internetfähiges Handy. Online einkaufen, chatten, Produkte bewerten, Reisen buchen, fotografieren, lesen, Musik hören, Videos schauen. Das Handy als Hobby. Telefonieren? Nebensache. Und jeder sendet, kommuniziert und schafft sich seine eigene Öffentlichkeit. Der digitale Bürger als sein eigenes Massenmedium.

Die neue Marktmacht der Verbraucher hat Auswirkungen auf die Wertschöpfungsketten in der Wirtschaft? Ökonomen glauben, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nur zu halten ist, wenn sie die digitale Transformation schafft. "Wir brauchen kein deutsches Facebook oder ein deutsches Silicon Valley. Unsere große Chance ist es, die starke deutsche Industriestruktur in die digitale Welt zu transformieren", sagt Klemens Skibicki, Wirtschaftshistoriker, Marketing-Professor und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums.

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Foto: ap

Gleichzeitig merken Unternehmen, Politik, und auch Medien, dass der permanente Dialog mit Kunden, Nutzern, Lesern, Wählern eines Willens zur Veränderung bedarf. Für die Politik heißt das: Welche rechtlichen Leitplanken muss sie für die elektronische Welt einziehen? Welche digitalen Ausbildungsinhalte stehen in den Lehrplänen? Was bringt es, Tablets an Schüler zu verteilen, wenn die Lehrer nicht zugleich digital aufgeklärt werden? Und natürlich birgt der Wandel rechtliche Unsicherheiten. Wie lassen sich Urheber- und Markenrechte schützen? Wie lässt sich Missbrauch und Mobbing begegnen? Auch: Welche Ansprüche an Politik und Verwaltung stellt die neue Mitmach-Demokratie? Fragen, die eine fundierte Debatte und eine Strategie der Politik erfordern würden. Im Koalitionsvertrag steht dazu eher wenig.

Wenig Angst vor Datenmissbrauch

"Das Digitale ist in etwa so wie das Thema Europa in den 80ern. Vielen sind die Vorteile klar, aber erst eine gesellschaftliche Debatte kann dafür sorgen, dass dieses Thema wirklich in diesem Land verankert wird", schreibt der Internet-Blogger Nico Lumma. Die politischen Eliten diskutieren derweil lieber über Risiken. Die "Netzgemeinde" wird als diffuses Grüppchen von Freaks verunglimpft, die den Rechtsstaat aushöhlen und alles umsonst haben wollen. Der Wandel geht dabei ungehemmt weiter, das digitale Volk ignoriert die gut gemeinten politischen Schutzreflekte. Als die damalige Verbraucherministerin Ilse Aigner 2010 aus Protest gegen die Datenschutzpolitik ihr Konto beim sozialen Internet-Netzwerk Facebook löschte, waren knapp neun Millionen Deutsche dort Mitglied. Heute sind es fast 30 Millionen, 92 Prozent der 14 bis 29-Jährigen. Jeden Tag melden sich 13 Millionen Deutsche bei Facebook an, stöbern in Ideen und Anregungen ihrer Freunde, offenbaren Vorlieben und diskutieren und verteilen munter "Gefällt mir"-Klicks. Vom NSA-Abhörskandal und Datenaffären lässt sich diese Generation offenbar nicht aufhalten.

In die große Verhandlungsrunde der Koalitionäre hat es das Thema bisher nicht geschafft. Wie analog die Politik denkt, zeigt die Idee eines Internetministeriums. Was nach Aufwertung klingt, ist Ratlosigkeit. Digitalisierung geht jeden Ausschuss und jedes Ministerium an. Ein Mentalitätswandel lässt sich nicht verordnen. Nicht das Schild an einem Ministerium löst das Problem, sondern die Überwindung der Barriere in den Köpfen. Experten fürchten, dass die kulturelle Kluft zwischen den Generationen zum Standortnachteil wird. "Die Entscheidungsträger in Politik, Medien und Wirtschaft sind als digitale Immigranten geprägt von der Welt des analogen Massenkommunikationszeitalters. Leider wird die Digitalisierung als befremdlich abgestempelt", sagt Skibicki. "Weil das mobile, soziale Internet nicht als gesamtgesellschaftliche Veränderung begriffen wird, müssen wir auf ganzheitliche Konzepte für den digitalen Strukturwandel aus den politischen Eliten warten." Für die Zukunft sei das ein dramatischer Standortnachteil.

"Die Politik hat bisher nicht verstanden welche Chancen die Digitalisierung für alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche bietet", räumt der SPD-Netzpolitiker und Bundestagsabgeordnete Lars Klingbeil ein. Der Anspruch in den Koalitionsverhandlungen müsse sein, dies zu ändern. Bis kommende Woche haben die Koalitionäre noch Zeit. Erst am Mittwoch soll der Vertrag stehen.

(brö)
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