Analyse Deutschland - überschätzte Vormacht

Analyse · Deutschland ist die wirtschaftliche Vormacht in Europa, doch seine (politische) Führungsrolle will das Land nicht annehmen. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen der britischen Wirtschaftszeitung "The Economist".

 Der Titel des Economist zeigt einen scheuen Bundesadler.

Der Titel des Economist zeigt einen scheuen Bundesadler.

Foto: The Economist

Viele Europäer blicken neidisch auf die deutsche Wirtschaft: Vollbeschäftigung in Teilen des Landes, starke Exportunternehmen, gefüllte Staatskassen. Doch die britische Wirtschaftszeitung "The Economist" denkt weiter. In ihrer heutigen Ausgabe nimmt sie sich Deutschland vor und kommt zu dem ernüchternden Befund: "Germany, the reluctant hegemon" (Deutschland, die zögerliche Supermacht). In ihrer Titelgeschichte beklagt sie, wie wenig Deutschland politisch aus seiner wirtschaftlichen Stärke macht.

Das Leitmedium der Weltwirtschaft hat sich schon oft als weitsichtig erwiesen. 1999 nannte es Deutschland früh "den kranken Mann Europas". 2005, als Deutschland erstmals fünf Millionen Arbeitslose zählte, erkannte es bereits die Wirkung der Hartz-Reformen und lobte "Deutschlands überraschende Wirtschaft".

Nun steht Deutschland nach Sicht der Briten erneut am Scheidepunkt. Es muss sich entscheiden, in welche Richtung es gehen will: Will es die (politische) Führungsrolle annehmen, die mit seiner wirtschaftlichen Macht verbunden ist oder will es weiter eine größere Version der Schweiz sein? "Nachdem die Deutschen Europa zweimal in Weltkriege geführt haben, glauben sie, ihr Land dürfe nicht mehr als eine größere Schweiz sein: "ökonomisch ein Riese, politisch ein Zwerg", schreiben die Briten. Das aber sei falsch. Deutschland könne Europa retten.

Muss es das? Die Briten meinen: ja. Frankreich sei wirtschaftlich schwach und schlecht regiert. Dass sein Präsident François Hollande jüngst die Euro-Krise gar für überwunden erklärte, zeige nur dessen Realitätsverdrängung. Großbritannien sei abgelenkt durch die Frage, ob es überhaupt in der EU bleiben wolle. Deutschland dagegen sei die wirtschaftliche Macht und habe auch ein zentrales Eigeninteresse, das europäische Projekt zu retten.

In der Tat steht das Land für gut ein Viertel der Wirtschaftsleistung in der Euro-Zone, entsprechend fallen seine Beteiligungen an der Europäischen Zentralbank und den Rettungsschirmen aus. Zu den Gründen für das Erstarken zählen unbestritten die starke Exportwirtschaft, die Arbeitsmarktreformen und die Lohnzurückhaltung. Diese Erfolge werden auch in einer Zahl sichtbar: Während in den vergangenen zehn Jahren die deutschen Lohnstückkosten nur um fünf Prozent gestiegen sind, legten sie in Italien um 21 Prozent zu. Allerdings hat Deutschland schlicht auch Glück gehabt. Das Land wurde genau in dem Moment wieder wettbewerbsfähig, als Schwellenländer wie China und Brasilien Hunger auf die deutschen Exportschlager Autos und Maschine entwickelt haben.

Anders als die Anti-Euro-Partei "Alternative für Deutschland" meint, hat das Land tatsächlich ein hohes Eigeninteresse an der Euro-Rettung — nicht nur wegen seiner Exportwirtschaft, sondern auch wegen seiner Banken. Die deutschen Institute sind die größten Kreditgeber in Europa. Bricht die Währungsunion auseinander, wären deutsche Banken am stärksten betroffen.

Warum nimmt Berlin die Führungsrolle dann nicht an? Zum einen scheuten sich die Deutschen nach ihrer dunklen Geschichte, politische Führung zu übernehmen, beklagen die britischen Autoren. Zum anderen würden die Deutschen glauben, der südeuropäische Schlendrian sei die tiefere Ursache der Euro-Krise. "Demnach würde die Lösung darin bestehen, dass Südeuropa nur so hart arbeiten und diszipliniert sparen muss wie Deutschland, um zu gesunden." Das aber sei zu wenig. Bei aller Mahnung zu mehr Disziplin müsse Deutschland auch selbst mehr tun: Die Unternehmen müssten mehr im eigenen Land investieren. In der Tat ist die schwache Nachfrage nach Maschinen und anderen Investitionsgütern der Grund dafür, dass die deutsche Wirtschaft derzeit kaum wächst.

Zudem müsse die Bundeskanzlerin einem Investitionsfonds für Europa und einer Bankenunion zustimmen, fordert der "Economist". Das aber lehnt Merkel bislang ab — und zwar aus gutem Grund. Sie will nicht, dass deutsche Spareinlagen für spanische und griechische Banken haften müssen.

Vor allem aber, so mahnen die Briten, müsse die deutsche Regierung endlich strategischer denken und sich frühzeitig mit den Nachbarn abstimmen. Die deutsche Energiewende sei ein Beispiel dafür, wie es nicht gehe. Hier haben sie tatsächlich einen wunden Punkt erwischt. Im Alleingang hat Merkel den Atomausstieg durchgezogen, nun leiden Nachbarländer massiv unter den deutschen (Öko-)Stromüberschüssen, die ihre Netzen stark belasten. Polen etwa zieht gerade Schranken im Netz hoch, um Blackouts "Made in Germany" zu verhindern.

Der "Economist" glaubt, dass Merkel nach einer Wiederwahl im Herbst den Platz in den Geschichtsbüchern anstrebe und neue Anstrengungen zur Euro-Rettung unternimmt. Andere Briten sind da weniger optimistisch. "Jedes Mal, wenn die Deutschen von den Nachbarn für stark gehalten wurden, waren sie schwach und umgekehrt", meint der Finanzjournalist David Marsh. Vor der Reichsgründung durch Bismarck 1870 hätten die Franzosen die Preußen unterschätzt, ebenso 1933 die Nationalsozialisten. Überschätzt hätten die Nachbarn Deutschland dagegen nach dem Fall der Mauer. Die Integration der maroden Ostwirtschaft war viel kräftezehrender als gedacht. Auch jetzt glauben viele, Deutschland könne den Euro im Alleingang retten. "Doch die Deutschen sind an dem Punkt angelangt, wo sie sich übernehmen", meint Marsh zu Recht. Diese Realität werde von den Nachbarn aber vernachlässigt.

Vielleicht, so möchte man ergänzen, weil es einfacher ist, auf den Heilsbringer aus Deutschland zu warten, als selbst schmerzhafte Reformen durchzuführen.

(RP/gre/caf/pst/csi)
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