Deutsche Einheit Wir schaffen das!

Düsseldorf · Anstatt am 3. Oktober anzustoßen, lassen wir uns zur Unzeit wieder spalten in angeblich ausländerfeindliche Ossis – und "Besser-Wessis", die zur Strafe ihren Usedom-Urlaub stornieren. Ein Appell.

 Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989.

Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989.

Foto: dpa

Anstatt am 3. Oktober anzustoßen, lassen wir uns zur Unzeit wieder spalten in angeblich ausländerfeindliche Ossis — und "Besser-Wessis", die zur Strafe ihren Usedom-Urlaub stornieren. Ein Appell.

Wer zu ihrem 26. Jahrestag die deutsche Wiedervereinigung würdigen will als die historische Einmaligkeit, die sie ist, wird schnell ausgebremst. Das Stichwort "friedliche Revolution" provoziert vor allem Widerspruch bei der Art Menschen, die bei Ostdeutschen nur zu gut als "Besser-Wessis" bekannt sind. "Revolution?", fragen sie — gefolgt von Gegenfragen, die im besten Fall Geschichtsvergessenheit demonstrieren und im schlimmsten ignorante Gehässigkeit: Wie viel die DDR-Bürger denn wirklich bewirkt und vor allem riskiert hätten? Ob der "andere" deutsche Staat nicht vielmehr von alleine zusammengebrochen sei, an Geldmangel und Unlust der Sowjetunion, sie militärisch zu verteidigen? Und ob nicht das großherzige Erbarmen der Westdeutschen gegenüber den seltsam frisierten Fremden viel zu wenig gewürdigt werde?

Westdeutsche Perspektive

Das ist eine sehr westdeutsche Perspektive. Die internationale würdigt die Rolle der DDR-Bürger eindeutig: In der englischsprachigen Wikipedia etwa taucht die Wende nicht als ein Beispiel unter vielen im Artikel "Peaceful revolution" auf — dieser ist ein Synonym dafür, er handelt von nichts anderem. Die unblutige Revolution, so heißt es dort, sei "komplett" erreicht worden durch "die gewaltfreien Initiativen, Proteste und Demonstrationen" zwischen Mai 1989 und März 1990.

Otto Normal-Wessi ist sich des Ausmaßes dieses Einsatzes häufig nicht bewusst — umso besser allerdings kennt er sich mit dem Solidaritätszuschlag aus: 142,5 Milliarden Euro betrug der allein zwischen 2005 und 2015. Und wofür? "Dafür, damit im Osten Straßen ins Nichts gebaut und Geisterstädte saniert werden, während hier Schwimmbäder und Büchereien geschlossen werden", poltert der Besser-Wessi. Unbeeindruckt davon, dass die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag eben nicht zweckgebunden sind für den "Aufbau Ost", weshalb die Bundesregierung damit munter alle möglichen Löcher stopft. Die Firmen, die die Sanierung von Autobahnen, Flughäfen und Altstädten in der ehemaligen DDR übernahmen, saßen übrigens meist im Westen — ebenso wie die Profiteure der Deals, in denen via Treuhandanstalt die Filetstücke der DDR-Wirtschaft privatisiert wurden. Und die Chefs der Drückerkolonnen, die vielen arglosen Ostdeutschen nutzlose Versicherungen und Kredite zu Wucherzinsen aufschwatzten. Und aus dem Westen stammen auch 80 Prozent der heutigen Eliten von Wirtschaft, Kultur, Medien und Politik in den neuen Bundesländern, schätzt der Chef der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung.

Thüringen statt Neuseeland

Doch von alledem will der Besser-Wessi nichts wissen. Er konzentriert sich lieber darauf, über das angebliche Misstrauen der Ossis gegenüber Fremden zu dozieren, ohne verstehen zu wollen, dass etwa das Spitzel-System der Stasi an denen, die es miterleben mussten, natürlich nicht spurlos vorübergegangen ist. Sein Urteil über die fremdenfeindlichen Ossis zu untermauern mit dem Aphorismus "Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben" könnte allerdings unfreiwillig komisch werden, falls sich herausstellt, dass der Urteilende zwar schon die halbe Welt gesehen hat, Neuseeland und Namibia — aber noch nie die neuen Bundesländer.

Aber was schert ihn das, der anstelle seiner Familie zu Ferienzwecken etwas viel Wertvolleres nach "Dunkeldeutschland" (höhö) gebracht habe, nämlich "Freiheit und Demokratie"? Und der nun empört fragt: "Was ist der Dank? Die zünden Asylantenheime an und wählen NPD und AfD!"

Diese "Argumentation" ist so unfair, verallgemeinernd, hetzerisch und letztlich fremdenfeindlich, dass jeder Neonazi stolz darauf wäre. So sehr suhlt sich mancher Wessi im Gefühl der eigenen Überlegenheit, dass ihm jedes Gefühl für die eigene Scheinheiligkeit abhanden kommt.

Der Kolumnist Jan Fleischhauer etwa kritisierte bei "Spiegel Online" eine seiner Meinung nach offenbar in allen neuen Bundesländern herrschende "Stimmungslage, bei der Einverständnis darüber herrscht, dass es besser ist, wenn man unter sich bleibt" — und fragt im selben Text, "ob die Wiedervereinigung nicht doch ein Riesenfehler war" — lies: Ob wir Westdeutschen nicht besser unter uns geblieben wären. Ist das noch zum Lachen oder schon zum Weinen?

Aus gutem Grund verlangten wir von der islamischen Welt, "ihre Dämonen in den Blick zu nehmen", schließt Fleischhauer. "Wir sollten von uns selber nicht weniger verlangen." Gute Idee! Aufgefordert fühlen sollen sich damit die Ostdeutschen, aber entdecken könnte man bei einer solchen Suche auch die Fremdenfeindlichkeit der Westdeutschen. Die sich nicht zuletzt in Form der Ossiphobie zeigt, also Geringschätzung "des Ostdeutschen" mit Rückgriff auf übelste Klischees bei Selbstwahrnehmung als Rächer der Gerechtigkeit — der seinen Urlaub auf Usedom storniert, wenn dort NPD und AfD besser abschneiden, als ihm lieb ist.

Falls der Boykotteur nicht gerade aus begründeter Angst um das Wohlergehen seiner "ausländisch aussehenden" Familie handelt, ist das moralische Selbstbefriedigung, weil es nicht zur Lösung des Problems beiträgt, sondern sogar zu dessen Verschärfung. Mit zweierlei Maß gemessen ist es sowieso. Oder kennen Sie Menschen, die Stadionbesuche bei Borussia Dortmund stornieren, zur "Bestrafung" der Neonazi-Hochburg Dortmund?

Die Kritik vom "braunen Osten" kommt natürlich nicht aus dem Nichts: In den neuen Bundesländern gibt es mehr rechte Demonstranten und weniger Gegendemonstranten, auch mehr Angriffe auf Flüchtlinge, bei weniger Einwohnern, und weniger Migranten sowieso. Das Führungstrio der Terrorgruppe "NSU" stammt aus Jena, in Clausnitz funktionierten sogenannte Asylkritiker die Friedensparole "Wir sind das Volk" zur Verbalwaffe gegen einen Bus verängstigter Flüchtlinge um. Und wenige Tage später steckten in Bautzen Menschen ein geplantes Flüchtlingsheim an, woraufhin sich laut Polizeibericht 20 bis 30 Menschen versammelten, von denen einige "abfällige Bemerkungen" machten und "unverhohlene Freude" zeigten und drei die Löscharbeiten behinderten.

Zu entschuldigen oder zu relativieren ist das nicht. Aber in Perspektive zu setzen.

Manchem ignorantem Wessi kann man es nicht oft genug einbimsen: Mit der Wende haben mehr als 16 Millionen Menschen nicht nur ihre Heimat verloren, sonderen auch ihr staatlich vermitteltes Wertesystem, ihre Sicherheiten, ihre Orientierung und ihren Job. Für nichts davon hat es für viele Menschen in den neuen Bundesländern irgendeine Art von Ausgleich gegeben. Außer hehren Worten kam bei Ihnen nichts an. Ihre Landschaften blühten meist eben nicht auf, vor ihren Haustüren standen statt Arbeitgebern die erwähnten Drückerkolonnen. Unternehmen aus dem Westen investierten nicht langfristig, aus dem Osten sind nur eine Handvoll wie Rotkäppchen-Sekt oder Radeberger-Bier überhaupt noch relevant, Tendenz sinkend.

Ohne Jobs wandern auch die Menschen ab, überdurchschnittlich oft die jungen, gut gebildeten und weiblichen. Für jene, die bleiben, auf dem Land, oft sowohl ohne Job als auch ohne Freizeitmöglichkeiten, ist es eine Mammutaufgabe, nicht in Selbstmitleid und Missgunst zu verfallen, keine Sündenböcke zu suchen, kein Ventil für Gewalt.

Ostdeutsche Neonazis sind vor allem Neonazis

Nicht einmal Fußballclubs, auf die sie übermäßig stolz sein könnten, sind den Bürgern aus den neuen Bundesländern geblieben: Dynamo Dresden, mit 18.000 Mitgliedern einer der größten Vereine bundesweit, pendelt zwischen Liga zwei und vier, Hansa Rostock dümpelt in der dritten, Carl Zeiss Jena hat zumindest die fünftklassige Oberliga hinter sich gelassen. RB Leipzig, das Team, das die Erste Liga aufmischen will? Könnte un-ostdeutscher nicht sein und wird von niemandem mehr verachtet als von den Fans des Traditionsvereins Lok Leipzig, Uefa-Cup-Halbfinalist 1974.

Kultur statt Steine

Aber zurück zum Punkt: Wie soll man umgehen mit jenen Ostdeutschen, die Flüchtlinge per se zu Wilden erklären, zu potenziellen Gewalttätern, mindestens aber zu Sozialschmarotzern, die sich nicht integrieren lassen? Fatal ist, was viel zu viele im Westen tun: Ostdeutsche per se zu Wilden erklären, zu potenziellen Gewalttätern, mindestens aber zu Sozialschmarotzern, die sich nicht integrieren lassen. Ostdeutsche Neonazis sind vor allem Neonazis. Bautzens Neonazis sind nicht gleichzusetzen mit Bautzen, und Bautzen nicht mit Sachsen, und Sachsen nicht mit allen neuen Bundesländern.

Hilfreich wäre, weiter zu investieren in den Osten, statt in Steine ausnahmsweise in Kitas und Kulturangebote. Hilfreich wäre, einmal selbst in die neuen Bundesländer zu fahren, zum Wandern, Kanu- oder Fahrradfahren — und jene, die man dort trifft, zum Gegenbesuch einzuladen. Auf dass diese selbst erleben, dass - bei allen Problemen mit Armut und Kriminalität - die "No-Go-Areas" für Bürger oder gar Polizisten schlicht nicht existieren, aus denen in der Fantasie mancher Rechter das halbe Ruhrgebiet besteht. Hilfreich wäre auch ein bisschen Vertrauen, Optimismus, Mut. Hilfreich wäre die Botschaft: Wir schaffen das mit der Wiedervereinigung! Stück für Stück.

(tojo)
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