Amtseid des Kanzlers Ohne Gottes Beistand

Meinung · Schon Bundeskanzler Gerhard Schröder verzichtete 1998 bei seinem Amtseid auf die Formel „So wahr mir Gott helfe“. So will es auch Olaf Scholz halten. Die Premiere seines Amtes aber ist: Er wird der erste Kanzler der Bundesrepublik sein, der keiner Konfession angehört.

 Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist konfessionslos (Archivbild).

Der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist konfessionslos (Archivbild).

Foto: dpa/Annette Riedl

Früher war’s eine Selbstverständlichkeit. Heute wird es als eine Option verstanden. Und künftig wird es vielleicht zur folkloristischen Ausnahme gehören – dass bei einer Kanzlervereidigung noch die Worte gesprochen werden: „So wahr mir Gott helfe.“

Dass dieser Schwur zunehmend eine besondere Aufmerksamkeit gewinnt, liegt möglicherweise an seiner zunehmenden Exklusivität. In einem sich rasant säkularisierenden Land ist die Bitte um Gottes Beistand für einen Politiker längst keine Notwendigkeit mehr. Und ein Verzicht auf diesen spirituellen Support ist auch nicht mehr mit einem Imageschaden verbunden. Dass der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz, der keiner Kirche angehört, auf metaphysische Amtsbegleitung verzichten wird, ist zwar eine Erwähnung, aber doch keine Erregung mehr wert. Zumal bereits sein Parteifreund und Vorvorgänger im Kanzleramt, Gerhard Schröder, 1998 zusammen mit anderen Kabinettsmitgliedern die Formel willentlich unerwähnt ließ. Damals löste das eine breite Gesellschaftsdebatte aus; die Gottlosen hätten nun das Ruder übernommen, hieß es. Und der damalige Erfurter Bischof Joachim Wanke gab zu bedenken, dass mit der fehlenden Rückbindung an eine transzendente Instanz auch andere „letzte Überzeugungen“ verloren gingen.

Diese Geschichte gibt es auch zum Hören - exklusiv für Sie. Abonnieren Sie jetzt unsere RP Audio-Artikel in Ihrer Podcast-App!

Aber darf man überhaupt die festgeschriebene Formel eigenhändig kürzen? Jawohl, man darf, nachzulesen im Grundgesetz unter Artikel 56, Satz 2, in dem sowohl der vollständige Eid als auch am Ende der Hinweis geschrieben steht, dass der Eid „auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden“ kann. Diese Chance auf Verzicht gibt es – nebenbei bemerkt – ebenfalls beim Eid für Landes- und Kommunalbeamte.

Also alles gut? Olaf Scholz hat noch vor der Bundestagswahl angekündigt, Gott in seinem Eid nicht vorkommen zu lassen – und sich als Kandidat auch auf diese Weise profiliert. Das hat bestenfalls kurzfristig für Beachtung gesorgt. Doch ganz so unbedenklich kann man dennoch nicht zur politischen Tagesordnung übergehen. Schließlich wird der neue Kanzler darauf schwören, „das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen“ zu wollen. Nun findet sich aber gerade in diesem schützenswerten Grundgesetz an prominenter Stelle ein anderer Hinweis. Die Präambel setzt mit diesen gewichtigen Worten ein: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Mit der „Verantwortung vor Gott“ wird die Eidesformel fürs Amt nicht zu einem privaten Glaubenszeugnis, sondern möglicherweise auch zu einem Bekenntnis zum Grundgesetz. Dann ist mit dem letzten Satz des Eids auch gar nicht ein fromme Kirchgänger gefordert. Mit ihm stellt sich ein Politiker ins Amt, der bereit ist, sich auch einer Institution zu verantworten. So ähnlich hat es die bekennende Protestantin Angela Merkel verstanden, als sie noch als Familienministerin 1994 erklärte, dass diese Formel einem bewusst machen soll, dass unser Handeln und Bestreben fehlbar und begrenzt sei. Ziel könne darum nur sein, auch in der Politik wenigstens nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Eine vorauseilende Variante dazu lieferte in pandemisch schwierigen Zeiten Gesundheitsminister Jens Spahn, der vor einigen Monaten prophezeite, dass man angesichts der diffusen Infektionslage einander später viel werde verzeihen müssen.

Da scheint ein wenig durch, was viele Menschen – ob kirchennah oder nicht – noch immer mit der Gottesformel verbinden: dass in der Öffentlichkeit auch ein Zeichen der Demut vor der Größe des Amtes und der Bedeutung seiner Anforderungen gegeben wird. Politische Macht hat immer ihre Grenzen. Wer um Gottes Hilfe bittet, hat solche Grenzen vor Augen und scheint sich auch mit der Formel vor der Gefahr der Hybris wappnen zu wollen. 

Nun werden neben Olaf Scholz weitere neue Minister der Ampel-Koalition den gekürzten Eid auf die Verfassung bevorzugen, wie die prominenten und gleichfalls konfessionslosen Politiker Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP). Diesmal allerdings ist der Verzicht auch Teil ihres politischen Programms, wie es zumindest im Koalitionsvertrag niedergelegt ist. Denn danach soll es in der kommenden Legislaturperiode Reformen beim kirchlichen Arbeitsrecht geben, eine neue Form der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gefunden und vor allem die Ablösung der sogenannten Staatsleistungen für Kirchen schrittweise umgesetzt werden. Etwas mehr als 550 Millionen Euro sind es immerhin, die die Länder bisher beiden christlichen Kirchen jährlich zahlen.

Das Geld gilt noch immer als Entschädigung für die Enteignungen während der Zeit der Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Über Sinn und Unsinn solcher Zahlungen ist dezent zwar schon früher immer mal wieder öffentlich nachgedacht worden, doch jetzt scheint die „Ablösung“ konkreter zu werden; und für die will man – wie verlautet – einen „fairen Rahmen“ finden.

Dagegen ist die Eidesformel kaum mehr als ein dekoratives Element. Aber sie markiert eine enorm wichtige Nahtstelle zwischen Staat und Kirche hierzulande. Das Verhältnis der beiden „Partner“ ist in Deutschland ja nicht sauber geklärt. Natürlich sind wir kein Kirchenstaat, aber auch kein streng laizistisches Gebilde wie etwa Frankreich. Gelegentlich ist in Deutschland von einem sanften Laizismus die Rede, was mehr nach rheinischer Lösung klingt.

Und dieses schwierige Verhältnis hat eine lange Geschichte. Denn „So wahr mir Gott helfe“ ist nur die friedfertige Fassung eines anderen Rufs nach Gottes Beistand im politischen Kontext. Weitaus martialischer ist das Umfeld der Bitte „Gott mit uns“. Dieser Wahlspruch des preußischen Königshauses findet sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Koppelschlössern der Soldaten wieder und fand sogar in den ersten Jahren der Bundeswehr noch Verwendung. Der Soldatenschwur ist der exekutive Gleichschritt von Staat und Kirche; der Amtseid ist seine legislative Entsprechung.

Dass auch diese jetzt löchriger wird, ist Teil einer Entwicklung. In diesem Sinne sind Olaf Scholz und seine „gottfernen“ Mitstreiter im Kabinett mehr oder weniger Kinder ihrer Zeit. Die Vereidigung dokumentiert einen geschichtlichen Prozess, der im Widerstreit von Aufklärung und Religion seinen Ausgangspunkt hat. Seither haben die Kirchen – unterbrochen von gelegentlichen Hochzeiten – ihre Dominanz in einer vormals gottgesicherten Gesellschaft verloren. Ihr Einfluss schrumpft permanent, mitunter rasant. Die Deutungshoheit liegt in anderen Händen.

Auch vor diesem Hintergrund ist das Ziel der Ampel-Koalitionäre aufschlussreich, die Staatsleistungen für Kirchen zu beenden: Denn damit wäre die Schuld einstiger Enteignung für immer getilgt. Das schwierige Verhältnis von Staat und Kirche wird sicher auch damit nicht abgeschlossen sein; aber es wird ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Wer beim Amtseid auf Gottes Hilfe verzichtet, muss nicht unbedingt eine gottlose Politik betreiben. Ebenso ist die Bitte um den Beistand des Höchsten kein Garant für ein ausgesprochen christliches Handeln. Der Eid ist also mehr ein Zeichen ans geneigte Publikum, dass der, der politische Verantwortung tragen will, sich der moralischen Wurzeln des Landes wenigstens bewusst ist und sich auf diesen Nährboden stellt.

Was nach dem Eid dann im alltäglichen Politikgeschäft tatsächlich geschieht, liegt – wie der Volksmund so sagt – in Gottes Hand. Vielleicht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort