Interview mit dem Philosophen André Glucksmann "Der Wille zum Ausrotten"

Düsseldorf (RP). Der französische Philosoph André Glucksmann mahnt: Der Terror ist nicht allein militärisch zu besiegen - entscheidend ist die Schlacht der Ideen.

Monsieur Glucksmann, Sie vergleichen die Anschläge vom 11. September 2001 in New York mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima. Ist diese Parallele nicht etwas gewagt?

Glucksmann Ich habe gesagt, dass die Anschläge die potenzielle Zerstörungskraft von Hiroshima hatten. Stellen Sie sich vor, die Terroristen hätten sich nicht ein symbolisches Ziel im Herzen von Manhattan ausgesucht, sondern ein Atomkraftwerk. Die Zahl der Opfer wäre mit der von Hiroshima durchaus vergleichbar gewesen. Im Übrigen hat es derartige Pläne offenbar gegeben, nur sind sie zum Glück nicht umgesetzt worden. Die Attacke auf die Zwillingstürme bewegt sich also im Maßstab eines nuklearen Angriffs. Das hat es vorher noch nie gegeben. Aber das ist nicht alles. Neu ist auch der zerstörerische Charakter dieses grenzüberschreitenden Terrorismus. Er zielt auf völlige Vernichtung ab. In Manhattan ging es den Tätern darum, beliebig viele Menschen umzubringen. Das ist der Wille zum absoluten Töten, der ohne Begründung auskommt. Deswegen habe ich den 11.September nicht nur mit Hiroshima verglichen - der technischen Fähigkeit zur Ausrottung -, sondern zugleich auch mit Auschwitz - dem Willen, es zu tun.

Seit den Attentaten rätseln wir im Westen darüber, was Menschen dazu bringt. Woher dieser Hass?

Glucksmann Schon Kant hat gesagt, dass die Wurzel des Bösen das Böse selbst ist. Wir lügen uns in die Tasche, wenn wir versuchen, den Hass, der sich am 11. September manifestiert hat, allein mit objektiven Gründen zu entschuldigen: Armut, Unterdrückung, Demütigung - die hat es seit jeher gegeben, überall auf der Welt. Sie gehören zur Menschheitsgeschichte. Trotzdem haben sie niemals den Anstoß zu einem Terrorismus nuklearen Ausmaßes gegeben. Lesen Sie Shakes-peare! Dass das Böse in jedem von uns schlummert, dass der Mensch grausam ist, das war in der europäischen Geistesgeschichte lange unbestritten. Erst im 18. Jahrhundert kam der Gedanke auf, die Modernität könne die Wurzeln des Bösen ausrotten. Nicht alle Intellektuellen haben daran geglaubt, aber es wurde unschicklich, dies offen auszusprechen. Wir mögen gerne an das Gute im Menschen glauben, das Böse wollen wir lieber nicht sehen.

Die Attentate hatten doch einen islamistischen Hintergrund. Spielen denn Ideologien gar keine Rolle als Triebfeder?

Glucksmann Wenn sie vom islamistischen Terrorismus sprechen, so kann ich nur feststellen, dass dessen bevorzugte Opfer ausgerechnet Moslems sind. Schauen Sie sich das Beispiel Algerien an: Ein Jahrzehnt lang tobte dort ein extrem blutiger Bürgerkrieg. Und am schlimmsten gelitten unter den von islamistischen Terrorkommandos angerichteten Massakern hat ausgerechnet die arme Landbevölkerung. Leute, die zuvor für die Islamisten gestimmt hatten! Oder schauen Sie in den Irak, wo sich die Moslems gegenseitig abschlachten. Wo ist da die Logik? Nein, der unter der Fahne des religiösen Integrismus mordende Terrorismus ist nur ein Aspekt eines neuen, internationale Terrorismus, der längst ohne ideologische Rechtfertigung auskommt. Ich nenne ihn den "nihilistischen Terror". Er kann ausgeübt werden von Individuen, kleinen Gruppen oder sogar von Staaten.

Man hat den Eindruck, als ob seit einigen Jahren rund um den Globus Terroristen wüten. Wo kommen die plötzlich alle her?

Glucksmann Sie waren in gewisser Weise immer schon da. Der Schriftsteller Ernst von Salomon, Freikorpskämpfer und indirekt beteiligt an der Ermordung Walther Rathenaus, hat 1918 festgestellt, dass der Krieg zwar vorbei sei, die Krieger aber immer noch da seien. Genauso ist es heute: Der Kalte Krieg ist vorbei, aber wir vergessen gerne, dass er nur für uns "kalt" war. Für den Rest der Menschheit war er vielfach sehr blutig, und seine Kombattanten sind nicht verschwunden, als sich die ideologisch verfeindeten Blöcke mit dem Fall der Mauer auflösten. Beinahe in jeder Ecke der Welt gibt es "Krieger auf eigene Rechnung", die die Zivilbevölkerung terrorisieren, um sich ihren Anteil an der Beute zu holen.

Beschädigen die Demokratien sich selbst im Kampf gegen den Terror?

Glucksmann Es besteht sicherlich die Gefahr einer Überreaktion. Das US-Gefangenenlager Guantanamo ist ein Beispiel für eine solche Panik-Reaktion, die zu etwas Skandalösem und Unmenschlichem führt, das unseren eigenen Werten widerspricht. Ich erlaube mir aber darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um eine vergleichsweise harmlose Überreaktion handelt. Augenblicklich befürchte ich aber eher, dass wir zu schwach reagieren. Dass wir zum Beispiel die gewaltige Gefahr unterschätzen, die von einem Mann wie dem iranischen Präsidenten Ahmadinedschad ausgeht, der die beiden politischen Tabus aus den Angeln hebt, die ein halbes Jahrhundert lang abschreckend gewirkt haben. Für Ahmadinedschad ist Auschwitz nur ein "Mythos" und die Atombombe eine Waffe wie jede andere.

Wie lässt sich der Terrorismus bekämpfen: Mit Waffen, mit Ideen?

Glucksmann Wir müssen begreifen, dass dieser Krieg gegen den Terrorismus nicht allein mit Debatten zu gewinnen ist. Manchmal wird physische Gewalt nötig sein. Aber entscheidend wird die Schlacht der Ideen sein. Unsere Fähigkeit, uns gegen den Terror zu wehren, hängt von der Einsicht ab, wie groß die Gefahr in Wirklichkeit ist. Und diese intellektuelle Auseinandersetzung mit der Gefahr ist für uns Europäer selbstverständlicher, als viele glauben. Denn anders, als gerne behauptet wird, hat sich Europa historisch nicht vorwiegend um gemeinsame Werte geschart, sondern um die gemeinsame Abwehr von Gefahren. 1000 Jahre lang wurde in den Kirchen um Schutz vor Hunger, Krieg und Pestilenz gefleht. Und seit dem Krieg orientierte sich die Politik an dem, was es zu vermeiden gab: Einen neuen, noch zerstörerischen Konflikt, einen neuen Hitler, ein neues Auschwitz. Heute geht es darum, dass wir Europäer endlich gegen den neuen Terrorismus zusammenrücken.

Matthias Beermann führte das Interview.

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Info André Glucksmann wurde 1937 in Frankreich als Sohn deutsch-jüdischer Eltern geboren, die vor den Nazis geflohen waren. In seiner Jugend gehörte er der französischen KP an, wurde gar Maoist. Dann kam die Wende.

Glucksmann entdeckte Solschenizyn und brach radikal mit dem Marxismus-Leninismus, geißelte den naiven Glauben an Frieden. Pazifismus ist ihm suspekt, er vertritt unerbittlich die Pflicht zur Einmischung für die Menschenrechte. So unterstützte Glucksmann auch den Krieg gegen Saddam Hussein. In Deutschland machte Glucksmann 1984 mit seinem Buch "Philosophie der Abschreckung" Furore. Den Gegnern der Nato-Nachrüstung warf er vor, blind zu sein für die totalitäre Bedrohung.

Sein letztes auf Deutsch erschienenes Buch beschäftigt sich mit den Antriebskräften des Terrorismus neuer Prägung: "Hass. Die Rückkehr einer elementaren Gewalt", Nagel & Kimche, 19,90 Euro.

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