Neue Studie Der Krieger im Bundeswehr-Soldaten

Analyse | Berlin · Der Staatsbürger in Uniform sollte in der neuen Armee der Bundesrepublik nichts mehr mit der Wehrmacht der Nazizeit zu tun haben. Doch eine umfangreiche Untersuchung eines renommierten Militärhistorikers kommt nun zu anderen, unbequemen und verstörenden Erkenntnissen.

 Eine Patrouille von Bundeswehrsoldaten im Jahr 2009 im nordafghanischen Fayzabad.

Eine Patrouille von Bundeswehrsoldaten im Jahr 2009 im nordafghanischen Fayzabad.

Foto: Dana Kazda

Ein pralles 800-Seiten-Buch* des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzel (52) sorgt für Unruhe. Gleich auf der ersten Seite startet er einen Frontalangriff auf die Grundfesten des militärischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Er zitiert die Überzeugung der damaligen Verteidigungsministerin und jetzigen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen („Die Wehrmacht ist in keiner Weise traditionsstiftend für die Bundeswehr“), die in einer Neufassung des Traditionserlasses für alle Soldaten verbindlich geworden ist. Und hält ihr entgegen: „Die Wehrmacht steckte von Anfang an in der DNA der Bundeswehr, und man kam auch im 21. Jahrhundert nicht ganz von ihr los.“

Es ist keine schnell daher gesagte These. Neitzel hat sich tief in die Psyche, die inneren und äußeren Kämpfe des Militärs in den zurückliegenden hundert Jahren hineinbegeben, liefert anschaulich den Blick auf Motivationen, Herausforderungen, Umfeld und Vorbilder eines Leutnants des Kaiserreichs, eines Offiziers von Hitlers Wehrmacht und eines Zugführers der Task Force Kunduz beim Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan. Und kommt zu dem Schluss, dass die drei mehr gemeinsam haben, als vermutet. Rund 200 Zeitzeugen haben ihn an ihren Gefühlen und Erlebnissen teilhaben lassen. Mit einer Fülle von Quellen liefert Neitzel eine Gesamtschau, die langfristig Maßstäbe setzt und aktuell eine brisante Sprengkraft besitzt.

So wussten wir bislang, dass in den Bürgerkriegen des zerfallenden Jugoslawien Serben am Wochenende zum Schießen auf Muslime in die Berge von Sarajewo fuhren. Wir wussten nicht, dass sich auch Bundeswehrsoldaten dort privat Kampferfahrung beschafften. Schon seit 1991 hätten „rund 200 bis 300“ Soldaten vorwiegend aus Garnisonen in Süddeutschland im Urlaub oder für ein verlängertes Wochenende auf kroatischer Seite mitgekämpft. „Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete“, schreibt Neitzel. Er beruft sich auf Recherchen seiner Doktorandin Julia Dehm, die das demnächst noch näher beschreiben wird.

Aber auch in Afghanistan ging es nicht nur nach den Vorschriften zu. Jüngst hat eine australische Untersuchung eine „beschämende Bilanz“ einer „egozentrischen Kriegskultur“ ergeben, wie Streitkräftechef Angus Campbell, einräumte. Mindestens 39 Gefangene oder Zivilisten seien von einer australischen Elite-Einheit „unrechtmäßig“ getötet worden. Von solchen Praktiken durch US-Soldaten erfuhren wiederholt offenbar auch Bundeswehrsoldaten. Neitzel berichtet, es seien sogar deutsche Stabskräfte „abgelöst“ worden, weil sie das Vorgehen der Amerikaner nicht in Einklang mit ihren Vorstellungen vom Charakter des Einsatzes bringen könnten.

„Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin“ – keiner habe sich mit den Amerikanern „anlegen“ wollen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Selbst „hartgesottene Soldaten“ der deutschen Eliteeinheit KSK seien „erschüttert“ gewesen, als ihnen „Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“.

Wie reagieren die Verantwortlichen heute darauf? Das Verteidigungsministerium verweist auf die Vorschriften, wonach die Einhaltung von Recht und Gesetz „verbindliche Grundlage jeglichen soldatischen Handelns“ sei und jeder Soldat eingreifen müsse, wenn er Zeuge von Menschenrechtsverletzungen werde, ganz zu schweigen von der Pflicht, dies unverzüglich zu melden. Aber leider reichten die elektronischen Auswertungen wegen des Datenschutzes nur bis ins Jahr 2016 zurück, sodass es „keine Erkenntnisse“ zu den Schilderungen von Neitzel gebe. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es Meldungen und disziplinarische Konsequenzen gab.

Damit dürfte sich die Politik nicht zufriedengeben. Grünen-Verteidigungsexperte Tobias Lindner kündigte an, das Ministerium zum Thema „Lage in den Einsatzgebieten“ zu fragen, wie es mit den Erkenntnissen von Neitzel umgehe. Für FDP-Bundeswehrexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann steht fest, dass jeder Soldat den Umgang mit Gefangenen kenne. Und für SPD-Verteidigungsfachmann Fritz Felgentreu gibt es eine Konsequenz aus dem Buch: „Wenn Straftaten begangen worden sind, muss die Staatsanwaltschaft tätig werden.“

Die brisanten Zeilen machen nur einen winzigen Bruchteil in Neitzels „Krieger“-Buch aus. So detailliert, wie er Ausbildung, Ausrüstung, Stimmung und Feldzüge der Wehrmacht und der Reichswehr beschreibt, zeichnet er auch die Entwicklung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee der DDR nach. Er beschreibt, wie es in der Bundeswehr ständig drunter und drüber ging. Am Anfang, als aus dem Stand eine riesige Armee in viel zu kurzer Zeit mit viel zu wenig qualifiziertem Personal aus dem Boden gestampft werden musste. Und nach der Wiedervereinigung, als unter dem Stichwort „Friedensdividende“ die Bundeswehr regelrecht kaputtgespart wurde und sie bis heute noch nicht wirklich wieder verteidigungsfähig sei. Hätte Putin 2014 nicht nur die Krim annektiert, sondern – wie befürchtet – auch das Baltikum besetzt, wäre der Bundeswehr nur das Zuschauen übriggeblieben. Neitzel glaubt noch nicht daran, dass der Fahrplan, bis 2032 wieder funktionierende Streitkräfte zu haben, wirklich eingehalten wird.

Nachhaltig wirkt Neitzels Schilderung der Geschehnisse in Afghanistan aus Soldaten-Sicht: Wie sich die Kämpfer von politischer wie militärischer Führung verraten fühlten, weil diese zu lange nicht wahrhaben wollte, dass es mit Brunnenbauen und freundlicher Ansprache nicht getan ist, dass man sie anfangs nicht schießen ließ, ihnen die richtigen Waffen vorenthielt und sie dann ihre eigenen Maßstäbe und Vorbilder für ihre Rolle im Krieg und den Umgang mit gefallenen Kameraden suchten. Bitter wirkt Neitzels Anklage, dass die Politik zwar stets verlangte, dass sich die Bundeswehr die Vorbilder in den eigenen Reihen und nicht bei der Wehrmacht suchen solle, dass aber die Gefallenen in Afghanistan vergessen worden seien und nicht einmal ihre Gefechtsberichte für die aktuelle Kampfausbildung zur Verfügung stünden. Es ist ein schwacher Trost, dass Neitzel die aktuelle Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in dieser Hinsicht deutlich besser bewertet als ihre Vorgänger. Aber auch für sie bleibt viel zu tun und vor allem eine Frage, die sich durch das gesamte Buch zieht: Soll die Bundeswehr ihre Aufgaben und Ausbildung vom Krieg oder vom Frieden her denken? Die Frage ist auch 65 Jahre nach der Gründung der Bundeswehr unbeantwortet. Es wird also Zeit.

*Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte. Propyläen, 819 Seiten, 35 Euro.

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