Wirtschaftsminister stemmt sich gegen Industrie-Abwanderung Robert Habeck und die Frage der Körpersprache

Berlin · Der Industriepräsident warnt vor der „realen Gefahr“ der Abwanderung deutscher Industrieunternehmen ins Ausland, vor allem in die USA. Denn immer mehr Unternehmen wollen vor den enormen deutschen Energiekosten fliehen. Auf einer Industriekonferenz erklärt Wirtschaftsminister Robert Habeck, wie er den gefährlichen Trend stoppen will.

 Industriepräsident Siegfried Russwurm, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und IG Metall-Chef Jörg Hofmann (von links nach rechts) auf der Industriekonferenz in Berlin.

Industriepräsident Siegfried Russwurm, Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und IG Metall-Chef Jörg Hofmann (von links nach rechts) auf der Industriekonferenz in Berlin.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Volkswagen, BMW, Bayer, BASF und RWE – die Liste der großen deutschen Industrieunternehmen, die ihre Fabriken in den USA ausbauen wollen oder neue planen, ließe sich locker verlängern. Ukraine-Krieg und Energiepreiskrise haben auch viele Mittelständler in Deutschland veranlasst, über die Verlagerung ihrer Produktionsstätten ins günstigere Amerika oder andere Weltregionen nachzudenken. Zu teuer, zu langsam, zu alt – der Industriestandort Deutschland ist in Gefahr und der zuständige Bundesminister hat sie erkannt.

Es gehe „um die Körperhaltung, mit der man auf den Platz geht“, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstag bei der Eröffnung einer Industriekonferenz in Berlin. „Es scheint eine Lust am Herbeireden des Untergangs zu geben, die falsch ist“, sagt Habeck, weil derzeit in einem vielstimmigen Chor der Untergang des Industriestandorts Deutschlands beschrieben wird. Habeck will sich dagegen stemmen. Die Herausforderungen seien riesig, „aber wir werden das hinkriegen, wir werden ein Industrieland bleiben“, sagt Habeck. Die Industriepolitik will er deshalb „ins Zentrum“ seiner Bemühungen im kommenden Jahr stellen. Alterung der Gesellschaft, Fachkräftemangel, Energiekrise und die klimaneutrale Transformation der Wirtschaft – es sei möglich, alles gleichzeitig zu schaffen, wenn man – in Analogie zum Fußball – mit der richtigen Körperhaltung auf den Platz gehe.

Eine Studie des Statistischen Bundesamtes scheint den Trend zur Deindustrialisierung Deutschlands zu bestätigen. Demnach hatte etwa jedes 60. deutsche Unternehmen schon vor dem starken Anstieg der Energiekosten wirtschaftliche Aktivitäten ins Ausland verlagert. Nach dem Anstieg der Energiepreise in diesem Jahr und vor allem wegen düsterer Zukunftsperspektiven, was die weitere Steigerung in den kommenden Jahren angeht, hat sich der Trend verstärkt. Bei einer Umfrage in diesem Jahr unter 600 Mittelständlern hätten über 20 Prozent der Firmen bereits von konkreten Abwanderungsplänen berichtet, sagt der in dieser Woche wieder gewählte Industriepräsident Siegfried Russwurm. „Unser Geschäftsmodell steht enorm unter Stress“, warnt Russwurm. „Die Gefahr der Abwanderung ist real.“

Vor allem die USA locken Industriebetriebe mit Energiepreisen, die teils nur ein Zehntel der Preise in Deutschland ausmachen. Hinzu kommt der neue „Inflation Reduction Act“, der mit Inflationsbekämpfung nicht viel zu tun hat. US-Präsident Joe Biden will unter anderem rund 370 Milliarden US-Dollar (rund 356 Milliarden Euro) in den Aufbau grüner, nachhaltiger Technologien pumpen. Die USA hätten sich entschieden, „den Kampf um diesen Leitmarkt“ zu führen, hatte Habeck in einer Bundestagsdebatte vergangene Woche gesagt. Europa müsse diesen Kampf aufnehmen, fordert er jetzt auf der Industriekonferenz. Auch die EU müsse viel mehr Geld in die Hand nehmen, um die klimaneutralen Zukunftstechnologien aufzubauen.

Biden will Steuergutschriften nur dann vergeben, wenn Unternehmen einen Teil ihrer Vorprodukte aus den USA beziehen und ihre Produkte in den USA produzieren. Das sei nicht kompatibel mit den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO), weshalb Europa vor der WTO klagen könnte, warnt Habeck. „Wir reden darüber mit den Amerikanern.“ Die EU brauche eine „robuste Antwort“ auf Bidens Industriepolitik, sie müsse schneller Entscheidungen treffen, mehr Fördermittel in die Hand nehmen, mehr in Europa produzieren, einen „Zukunftsplan“ für ihre Industrie entwickeln, sagt Habeck.

Deutschland habe da besonders gute Chancen, weil es beim Ausbau der erneuerbaren Energien schon vergleichsweise weit vorangekommen ist, finden auch Russwurm und IG-Metall-Chef Jörg Hofmann auf der Konferenz. Russwurm fordert einen „Schulterschluss“ von Industrie, Gewerkschaften und Politik, Hofmann eine „Industrieoffensive“, damit sich Deutschland in den Zukunftsbranchen schneller neue industrielle Standbeine aufbaut. Hier könnten dann auch Fachkräfte aus den „alten“ in die „neuen“ Industrien umgelenkt werden, so Hofmann.

Der Präsident des Bundesverbands der Industrie (BDI), Russwurm, macht klar, dass die akute Krisenbewältigung wegen des Ukraine-Kriegs und die Transformation der Industrie nur mit Hilfe des Staates gelingen könnten. Der Staat kappe jetzt mit der Gas- und Strompreisbremse zwar die „Preisspitzen“, aber da müsse noch viel mehr kommen. „Geld allein schießt keine Tore“, betont Russwurm und verweist damit auf die Notwendigkeit, Bürokratie abzubauen, Investitionen zu erleichtern, mehr Fachkräfte aus dem Ausland zu holen. Und zwar schnell, sehr schnell.

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