Zuhause, in sozialen Netzwerken, überall Warum das Private unschätzbar wertvoll ist
Düsseldorf · In den sozialen Netzwerke wird viel Persönliches geteilt. Die Grenzen des Privaten haben sich verschoben. Umso wichtiger sind Räume, in denen sich der Einzelne entfalten kann – geschützt, unbeobachtet, frei.
Menschen, bei denen eingebrochen wurde, sagen hinterher oft, das Schlimmste sei gar nicht das geknackte Fenster oder der Verlust von Wertgegenständen. Das Schlimmste sei das Gefühl, „dass da einer war“. Dass jemand ohne Erlaubnis, ohne Kontrolle, in Räume eingedrungen ist, die als Rückzugsort dienen, als Nest, als unbeobachtete Sphäre. Als der sichere Ort, an dem man ist, wer man ist. Und im Schlafanzug am Tisch sitzt. Und die Toilettentür nicht schließt.
Natürlich gehört zu diesem schützenswerten Raum auch, was man denkt und privat äußert. Zwar haben im digitalen Zeitalter viele Menschen Spaß daran, Persönliches wie Urlaubsfotos, das tolle Essen im Restaurant oder die eigenen Mühen im Fitness-Studio über soziale Netzwerke zu teilen. Aber darüber entscheiden sie selbst. Die Grenzen des Privaten mögen sich also verschoben haben, nicht aber die Notwendigkeit dafür, dass es weiterhin geschützte Bereiche geben sollte: Lebens- und Denkräume, die unangetastet bleiben, und auf deren Schutz der Einzelne sich verlassen kann. Gewisse Nachrichten teilt man eben nicht mit allen. Gewisse Fotos gibt man nicht preis. Die Inhalte müssen gar nicht pikant sein, sie sind nur nicht für alle gedacht. Und es sollte der Einzelne sein, der darüber entscheidet.
So haben prominente Menschen, die vom jüngsten Hacker-Angriff getroffen wurden, wie der Grünen-Politiker Robert Habeck, womöglich nur Belanglosigkeiten ausgetauscht. Doch das ist nicht die Frage. Die Tatsache, dass persönliche Daten und vertrauliche Dialoge in die Öffentlichkeit gezerrt wurden, verletzt den sensiblen Bereich, den wir Privatheit nennen.
Wie kostbar dieser Schutzraum ist, zeigt die rechtliche Stellung des Privaten in demokratischen Staaten. Privatsphäre wird da als ein Raum definiert, in dem sich der Einzelne entfalten kann, und so ist er durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. Auch vor dem Gesetz kann dieser Raum das familiäre Heim sein, umfasst aber auch, was man nicht mit Händen greifen kann: die private Kommunikation und das Denken und intime Empfinden von Menschen. „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, heißt es im Grundgesetz. Das Private ist also mit der Wertschätzung des Individuums verbunden, es steckt den Raum ab, in dem die Gedanken völlig frei sind, Menschen sich ausprobieren, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Diese Entfaltung gilt als ein zutiefst menschliches Bedürfnis – das Recht darauf als Teil der menschlichen Würde.
Mit den neuen Kommunikationskanälen, den sozialen Netzwerken, den Foto-Plattformen sind Hemmungen geschwunden, Szenen aus dem eigenen Leben auch mit einem größeren Personenkreis zu teilen. Die Verlockung zur Selbstdarstellung ist groß. Doch die Tatsache, dass viele enger fassen, was ihnen wirklich privat gilt, bedeutet noch nicht, dass dieser Bereich weniger streng geschützt werden müsste. Das Private ist nötiger denn je, denn es kann Pause von Selbstdarstellung und Eigenvermarktung bieten und Erholung mit dem unverstellten Ich. Wenn man es zulässt.
Der moderne Mensch ist ja ein Rollenwesen, er setzt im Laufe eines Tages viele Gesichter auf. In immer neuen Zusammenhängen, im Job, im Verein, im Freundeskreis muss er Erwartungen genügen. Das ist anstrengend. Es kann sogar krank machen, wenn aus ständiger Anpassung tiefe Entfremdung wird.
Das Individuum benötigt also den anderen Ort, an dem es sich von Erwartungen und Konventionen befreien, mehr mit sich selbst in Einklang leben kann. Natürlich gibt es auch im Privaten Rollen. Natürlich ist auch die Familie kein erwartungsfreier Raum. Doch herrschen in der Regel mehr Vertrautheit und Großzügigkeit. Man kennt einander so gut, dass man sich nichts vorspielen muss, steht nicht unter Konkurrenzdruck. Man darf also auf Wohlwollen hoffen, wenn man Seiten an sich zeigt, die nicht in Karriereprofile passen.
Natürlich kann das alles das Private auch zu einem verlockenden Fluchtort machen. Der Einzelne kriecht in sein vertrautes Nest, koppelt sich ab von öffentlichen Belangen, die Welt mit ihren flexiblen Ansprüchen und ungelösten Problemen geht ihn nichts mehr an. Dann wird verkehrt, was das Private eigentlich sein sollte. Denn mit diesem Schutzraum hat sich das Bürgertum ja einst gegenüber dem Staat behauptet, hat sich aus der Vereinnahmung und Bespitzelung befreit.
Das Private war immer auch die Verheißung, Schutz zu bieten vor dem Staat, der zu viel wissen will. Oder vor dem Unternehmen, das Kontrolle will. Darum mag man im Ausland über die German Angst vor Datenklau und Bespitzelung durch Kommunikationsgeräte im Wohnzimmer lächeln. Die Angst hat historische Gründe.
Doch es kann zu behaglich werden im Privaten, zu bequem. Auch damit hat Deutschland seine Erfahrungen gemacht. Früher nannte man das Biedermeier, heute Cocooning. Und natürlich ist es fatal, wenn Menschen sich aus dem Gesellschaftlichen abkoppeln, ihr Glück nur noch in der Optimierung ihres Nahbereichs suchen und „die da oben“ machen lassen.
Genauso hat es die entgegengesetzte Tendenz gegeben. Um 1968 etwa, als alles Private zum Politikum erklärt wurde, und der engagierte neue Mensch, aus der Festung Familie befreit, im Kollektiv sein Glück suchen sollte.
Vielleicht haben diese Erfahrungen dazu beigetragen, dass Menschen heute selbst entscheiden dürfen, wie sie privat leben wollen, welche Art von Bindung ihnen gut tut und was aus ihrem Leben sie öffentlich machen wollen. Den Schutzraum des Privaten benötigen sie in jedem Fall.