Inzidenz steigt weiter an „Das Virus lässt sich nicht wegtesten“

Berlin · Nach der Einschätzung von Gesundheitsminister Jens Spahn wird auch die bundesweite Notbremse nicht ausreichen, um die dritte Corona-Welle in den Griff zu bekommen. Experten weisen darauf hin, dass jetzt die Infizierten von vor zwei Wochen in den Intensivstationen ankommen. Die Zahl der Infektionen nimmt aber weiter zu.

 Gesundheitsminister Jens Spahn setzt sich nach der Pressekonferenz am Donnerstag in Berlin eine Maske auf.

Gesundheitsminister Jens Spahn setzt sich nach der Pressekonferenz am Donnerstag in Berlin eine Maske auf.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat an die Bundesländer appelliert, umgehend wirksame Kontaktbeschränkungen in Kraft zu setzen. Sie dürften nicht auf das neue Bundesgesetz warten, das frühestens Ende nächster Woche mit einer bundesweiten Notbremse in Kraft treten kann. Auch reiche dies alleine nicht aus. Angesichts von einem bundesweiten Inzidenzwert von 140, rund 300 Corona-Toten täglich und fast 5000 Corona-Intensivpatienten sei jeder Tag wichtig. Andernfalls komme das Gesundheitssystem an den Rand seiner Kapazität. Ende des Monats werde mit 6000 Corona-Patienten in den Intensivstationen gerechnet.

Von einer dramatischen Lage auf den Intensivstationen sprach der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler. Er bezeichnete den Inzidenzwert von 200 für das Schließen von Schulen in einer Region für zu hoch. Bei einem derart großen Infektionsgeschehen würden viele Schüler und ganze Klassen aus der Schule genommen werden müssen. Spahn schloss sich dieser Kritik am Gesetzentwurf der Koalition an. Nachdrücklich warnte Wieler vor der Vorstellung, das Virus einfach wegtesten zu können. Dieser Glaube sei naiv.

Die deutschen Kliniken sind nach den Worten des Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, in der Corona-Pandemie an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen. „Die Belastung in den Kliniken und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist seit einem Jahr hoch und an der Grenze der Belastbarkeit“, sagte der DKG-Vorstandsvorsitzende unserer Redaktion. „Die Krankenhäuser fahren die Regelversorgung immer weiter zurück. Das ist unbedingt notwendig, um auf die Zunahme der Covid-Patienten vorbereitet zu sein“, sagte Gaß. „Die Covid-Patienten von heute sind die Neuinfizierten von vor zwei bis drei Wochen“, sagte Gaß. „Dementsprechend müssen wir damit rechnen, dass die Zahl der Covid-Patienten den Höchststand der zweiten Welle bald erreichen wird. Vor diesem Hintergrund haben wir schon vor Wochen gefordert, dass die Notbremse bei einer Inzidenz von über 100 konsequent umgesetzt wird. Wir brauchen politisches Handeln, schnell und konsequent“, sagte Gaß. Er trat jedoch Befürchtungen entgegen, die Kliniken könnten angesichts der Corona-Belastungen andere Patienten mit dringendem Behandlungsbedarf bald nicht mehr aufnehmen. „Nach einer aktuellen Umfrage erwarten aber trotz allem mehr als 50 Prozent der Kliniken, dass ihr Standort nicht vor einer kompletten Überlastung des Systems steht. Patienten mit dringendem Behandlungsbedarf, unabhängig ob Covid oder anderen Erkrankungen, werden auch weiterhin einen Behandlungsplatz im Krankenhaus finden“, sagte Gaß. „Das ist aber kein Anlass zur Entwarnung, im Gegenteil. „Es ist richtig, schon heute Verlegungen in Regionen mit freien Betten und weniger Infektionslast zu planen“, erklärte er.

Auch der Präsident des Deutschen Pflegerats, Franz Wagner, befürchtet einen Notstand auf den Intensivstationen und einen Exodus des Pflegepersonals nach der Pandemie. „Derzeit haben wir eine Dynamik in der dritten Welle der Pandemie, die mir große Sorgen bereitet und befürchten lässt, dass die Kapazitäten nicht ausreichen werden“, sagte Wagner unserer Redaktion. „Wir brauchen sofort einen Lockdown nach einheitlichen Regeln“, forderte der Chef des Pflegerats. „Die Situation auf den Intensivstationen ist sehr angespannt“, sagte Wagner. „Seit über einem Jahr arbeiten die Pflegenden unter enormer Belastung und das in einer Situation, wo schon vor der Pandemie die Arbeit oft schwierig war. Die Krankheitsverläufe in der Pandemie sind mit nichts vergleichbar, was wir bisher in der Intensivpflege kannten. Die langen und schweren Verläufe und vor allem die hohe Sterblichkeit sind schwer zu verkraften“, sagte der Pflegerats-Chef. „Große Sorge bereitet mir auch, dass nach der Pandemie viele Pflegende aufgrund ihrer Erlebnisse den Beruf verlassen werden. Die Anzeichen dafür mehren sich“, warnte er. „Es ist auch nicht erkennbar, dass politisch entscheidende Weichen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen nach der Pandemie gestellt werden. So wird es zum aktuellen Stand kein Personalbemessungsverfahren für das Pflegepersonal in den Krankenhäusern geben“, sagte Wagner.

Der Berliner Corona-Patienten-Koordinator Steffen Weber-Carstens erläuterte, dass eine typische Intensivstation aus zehn bis zwölf Betten bestehe. Wenn diese nun im Schnitt zu 90 Prozent belegt seien, bedeute, dies, dass für alle weiteren Notfälle praktisch nur noch ein Bett zur Verfügung stehe. In Berlin bestünden inzwischen bereits 50 Prozent aller Feuerwehrfahrten aus der Verlegung von Covid-19-Patienten. Es sei bisher gelungen, ein „Absaufen“ der Intensivstationen zu verhindern. Dies dürfe aber nicht verspielt werden.

An diesem Freitag soll der Gesetzesentwurf zu den schärferen bundesweiten Corona-Regelungen in erster Lesung im Bundestag beraten werden. Dabei soll es nach Medienberichten selbst unter Rechtsexperten im Kanzleramt juristische Bedenken an den geplanten Maßnahmen geben. Besonders an der nächtlichen Ausgangssperre gebe es Zweifel. Kritisch gesehen wird demnach auch, dass sich die geplanten Regelungen ausschließlich auf Inzidenzwerte stützen und weitere Kennzahlen wie den R-Faktor oder die Belegung von Intensivstationen nicht berücksichtigt werden. Besonders problematisch werde die automatische Schließung von Kitas und Schulen gesehen. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) dagegen hält die geplanten Ausgangsbeschränkungen für „verhältnismäßig“. „Das hat überall geholfen. In vielen Staaten der Welt ist das gemacht worden. Und es hat die Inzidenzwerte nach unten gebracht“, sagte der Finanzminister. Auch Unions-Rechtsexperte Jan-Marco Luczak bezeichnete die Corona-Notbremse als „notwendig, um das dynamische Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen“. Weil sie auch in die Freiheitsräume der Menschen einschnitten, werde das Gesetz derzeit widerspruchsfrei und verfassungsfest ausgestaltet.

Der SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner hingegen schloss eine Zustimmung seiner Fraktion zu dem Gesetzesentwurf in der jetzigen Form aus. „Wenn es keine Änderungen an dem Gesetzesentwurf in seiner jetzigen Form gibt, wird die SPD-Fraktion nicht zustimmen“, sagte Fechner. Zur Begründung führte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion verschiedene Punkte ins Feld. „Die Ausgangssperren sind zu pauschal gefasst, da muss es weitere Ausnahmen geben. Es muss beispielsweise möglich bleiben, mit der Partnerin oder dem Partner abends noch spazieren zu gehen oder draußen Sport zu machen“, so Fechner. Die SPD teile auch die juristischen Bedenken aus dem Kanzleramt an der Fixierung auf Inzidenzwerte. „Die rechtlichen Bedenken, die man nun aus dem Kanzleramt hört, widersprechen voll und ganz der bisherigen Haltung  der Union bei diesem Thema. Doch offensichtlich müssen diese Bedenken bei den Mitarbeitern im Kanzleramt so massiv sein, dass sie nun sogar an die Öffentlichkeit durchgestochen werden. Das ist schon sehr bemerkenswert“, betonte Fechner weiter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort