Interview mit Jörg Dräger "Das Sitzenbleiben sollte abgeschafft werden"

Düsseldorf · Der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger, plädiert dafür, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Der Bildungsexperte sagte im Interview mit unserer Redaktion: "Sitzenbleiben ist nicht nur nutzlos für den Sitzenbleiber, sondern auch für die Klasse, aus der er ausscheidet."

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Der Gedanke, sich auf diese Weise "vermeintlicher Problemkinder" zu entledigen führe in die Irre, "denn von oben rutschen ja neue Sitzenbleiber nach". Das System des Wiederholen einer Klasse koste die Gesellschaft jährlich eine Milliarde Euro. Dieses Geld lasse sich sinnvoller einsetzen, meint Dräger. Im Interview spricht er über den Umgang mit Leistungsunterschieden und die richtige Auswahl der Lehrer.

Herr Dräger, wie gut ist das deutsche Bildungssystem?

Dräger: Seit der ersten Pisa-Studie 2001 hat Deutschland unter den entwickelten Ländern den größten Fortschritt gemacht. Das verkennen wir oft. Die Leistung unserer Schulen ist besser geworden. Trotzdem kommt jeder Fünfte nicht über das Grundschulniveau hinaus. Das ist ein riesiges Problem.

Müssen wir uns besonders auf diese Schwachen konzentrieren?

Dräger: Wir müssen ihnen mehr Chancen verschaffen, auch im Interesse der Gesellschaft insgesamt. Aber gute Schule fördert Starke und Schwache zugleich. Wenn der Eindruck entsteht, wir fördern nur die "Kellerkinder", schrumpft das Vertrauen der gebildeten Mittel- und Oberschicht weiter, dass auch ihre Kinder angemessen gefördert werden.

Woher kommt dieser Vertrauensverlust? Fehlt der Politik gerade in Bildungsfragen der Mut?

Dräger: Das weniger, aber die Komplexität verführt zu einfachen Antworten. Die gehen nur leider oft an der Sache vorbei. Die Verkleinerung der Klassen zum Beispiel ist wahnwitzig teuer — ein Schüler weniger pro Klasse kostet für ganz Deutschland jedes Jahr eine Milliarde Euro. Für das Lernergebnis hat das aber erwiesenermaßen kaum einen Effekt. Ähnliches gilt für die Anzahl der PCs im Klassenzimmer.

Was hat denn dann einen Effekt?

Dräger: Eine gute Schulleitung und gute Lehrer, die verstehen, jeden Schüler individuell zu fördern.

Das ist doch eine Binsenweisheit.

Dräger: Aber sie stimmt! Wir müssen unsere Lehrer besser auswählen, ihre Ausbildung grundlegend reformieren, und wir brauchen auch mehr Leistungsanreize. Letztlich müssen wir auch überlegen, was wir mit denen machen, die den falschen Beruf gewählt haben. Nur mit guten Lehrern kann Schule der wachsenden Vielfalt gerecht werden.

Wie sollen Lehrer mit den riesigen Leistungsunterschieden in ein und derselben Klasse umgehen?

Dräger: Gute Pädagogik ermöglicht, die Schwachen und die Starken gleichermaßen zu fördern, auch im selben Klassenzimmer. Das Ausschließen führt zu nichts — an den Förderschulen beispielsweise schaffen drei Viertel der Kinder keinen Abschluss. Wir brauchen ein Schulsystem, das auf die Lerngeschwindigkeit jedes einzelnen Kindes eingeht.

Wie soll das in einer Klasse mit 28 oder 30 Schülern funktionieren?

Dräger Das geht, wenn das Kollegium als Team den Unterricht vorbereitet und nicht jeder Lehrer Einzelkämpfer ist. Digitale Hilfsmittel können Standardwissen vermitteln. Darauf verwenden Lehrer heute 80 Prozent ihrer Zeit, aber nur 20 Prozent auf den einzelnen Schüler. Dieses Verhältnis sollte sich umkehren.

Wie passt das Sitzenbleiben in ein solches System?

Dräger: Sitzenbleiben ist nicht nur nutzlos für den Sitzenbleiber, sondern auch für die Klasse, aus der er ausscheidet. Es kostet uns mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr.

Also abschaffen?

Dräger: Ja. Die Idee, sich so vermeintlicher Problemkinder zu entledigen, führt in die Irre. Denn von oben rutschen ja neue Sitzenbleiber nach. Das gesparte Geld sollten wir besser nutzen.

Und die Sanktionsmöglichkeiten?

Dräger Die Sanktion ist die sofortige Intervention. Alle zwei Wochen sollte der Lehrer mit jedem Schüler den Lernfortschritt besprechen. Ein solches System hält Kinder viel länger motiviert, als halbjährliche Zeugnisse allein es je könnten.

FRANK VOLLMER FASSTE DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN.

(RP//rm)
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