Warum viele Debatten zur Farce geworden sind Das Parlament der leeren Stühle

Berlin · Während die Gesetzgebungsmaschine läuft, lässt die Linke die Beschlussunfähigkeit des Bundestages feststellen und sorgt für den Sitzungsabbruch. Was dahinter steckt und warum viele Debatten zur Farce geworden sind.

Das sind die Spitzenverdiener im Bundestag
12 Bilder

Das sind die Spitzenverdiener im Bundestag

12 Bilder

Es ist 20.09 Uhr, als im Umfeld des Berliner Parlamentsviertels die Panik ausbricht. Abgeordnete hasten aus Sitzungszimmern, verlassen Empfänge, flüchten auch vom Sommerfest der NRW-Landesvertretung.

Per SMS sind sie von ihren Fraktionsführungen ins Plenum beordert worden. Die Koalition droht ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren. Und tatsächlich ist es um 20.49 Uhr geschehen: Merkels Macht ist gebrochen. Die Mehrheit bringt kein Gesetz mehr durch. Aus, vorbei. Zumindest für den Rest des Tages.

"O Gott!", ruft der CSU-Abgeordnete Wolfgang Zöller um Punkt 20 Uhr. Gerade hat Jörg Wunderlich, der amtierende Geschäftsführer der Linken, offiziell Zweifel nach Paragraf 45 Absatz 1 der Geschäftsordnung erhoben. Danach ist der Bundestag beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind.

Solange das nicht von einer Fraktion oder fünf Prozent der anwesenden Abgeordneten hinterfragt wird, kümmert das im parlamentarischen Alltag keinen. Es ist ein Akt der Arbeitserleichterung. Denn sonst müssten die meisten Politiker an Sitzungstagen zehn, zwölf, vierzehn Stunden im Plenarsaal verbringen, könnten keine Sitzungen und Besprechungen mehr wahrnehmen, keine Akten studieren, keine Bürger-E-Mails beantworten.

Kurzschlussreaktion der Linken?

"Das ist doch Quatsch!", sagt der FDP-Abgeordnete Heinz Lanfermann um 20.02 Uhr zur Anmerkung der amtierenden Sitzungspräsidentin Petra Pau (Linke), dass nun ein "Hammelsprung" fällig sei. Doch die Geschäftsordnung ist hier eindeutig: Wird die Beschlussfähigkeit offiziell angezweifelt, muss das unverzüglich überprüft werden. Das Durcheinander nimmt jedoch zu. Pau bittet die Geschäftsführer aller Fraktionen zu sich ans Pult.

Zunächst sieht es nach einer Kurzschlussreaktion der Linken nach einer scheinbaren Abstimmungspanne aus. Denn gerade haben die Linken tatsächlich für ein CDU/CSU/FDP-Gesetz gestimmt. Doch das Votum über das "Apothekennotdienstsicherstellungsgesetz" ist unabänderlich. Das gilt.

Weil der Fachausschuss auch empfohlen hat, einen ähnlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung damit für erledigt zu erklären, wird darüber nun per "Hammelsprung" abgestimmt. Zu diesem Zweck müssen alle Abgeordneten zur besseren Übersicht der Mehrheitsverhältnisse den Saal verlassen und durch Türen für Ja, Nein oder Enthaltung wieder hineinkommen. Dabei werden sie gezählt.

Die im Saal haben es nun überhaupt nicht eilig. Mehrfach ermahnt Pau ihre Kollegen, den Saal zu verlassen, damit sie mit der Abstimmung beginnen kann. Doch nach 20 Minuten stehen die Abgeordnete immer noch diskutierend zwischen den Bänken. Die Absicht ist klar: Zeit gewinnen, damit es noch möglichst viele Kollegen schaffen. Nach einer halben Stunde füllt sich der Saal. Mehrfach fragt Pau, ob nun alle Mitglieder wieder im Saal seien, und jedes Mal bekommt sie den Hinweis, da seien "noch viele" (einer ruft "Tausende") vor der Türe.

Für die Debattenkultur kein großer Verlust

Die Linke, die sich um die mangelnde Präsenz im Plenum sorgt, bringt es selbst nur auf ein knappes Dutzend von eigentlich 75 Abgeordneten. Aber das ist Sinn der Sache — die zügig schnurrende Gesetzgebungsmaschine nachhaltig stören.

Inzwischen ist nämlich klar: Die scheinbare Abstimmungspanne war gar nicht das Motiv. Die Linke hatte sich schon im Fachausschuss auf die Seite von Schwarz-Gelb gestellt. Für sie ist das Gesetz der Koalition ebenfalls sinnvoll, wonach Apotheker, die sich im Notdienst die Nacht um die Ohren schlagen, nicht nur per verkaufter Pillenpackung sondern zusätzlich mit einer Pauschale entlohnt werden.

Es bleibt für diesen Tag das letzte Gesetz. Fast 40 weitere Vorhaben scheitern. Denn statt mindestens 311 von 620 Abgeordneten schaffen es bis zum Ende des "Hammelsprungs" nur 268 durch die Türen. Und Beschlussunfähig heißt: Sitzung aufgehoben.

Für die Debattenkultur ist das kein großer Verlust. Die Nächte vom Donnerstag zum Freitag sind in der Bundestags-Routine längst zur parlamentarischen Farce geworden. Formal planen die Geschäftsführer die Debatten bis zum frühen Morgen.

Doch tatsächlich ruft der jeweilige Sitzungsleiter das Thema nur noch auf, stellt fest, dass alle Reden zu Protokoll gegeben werden, kommt sofort zur Abstimmung und zum nächsten Punkt. Mitunter schreiben mehr als 100 Abgeordnete ihre Reden nur noch fürs Protokoll.

15.000 parlamentarischen Vorgängen in einer Wahlperiode

Das hat mit dem Flaschenhals-Charakter des Plenums und mit dem seit Jahrzehnten unveränderten Tagungsrhythmus zu tun: Montags Vorstände und Landesgruppen, dienstags Arbeitskreise und Fraktionen, mittwochs Ausschüsse, bleiben nur der Mittwochmittag, der Donnerstag und der halbe Freitag bis zur Heimfahrt in die Wahlkreise, um sowohl die großen Themen zu debattieren als auch jedes Mal Dutzende von Gesetzen zu beraten.

Und da der Bundestag pro Jahr durchweg weniger als 24 Wochen tagt, wird es entsprechend eng, mit den rund 15.000 parlamentarischen Vorgängen in einer Wahlperiode durchzukommen.

Die von den Linken provozierte zusätzliche Störung des Systems hat angeblich Protest-Charakter. Wunderlich sei einfach der Kragen geplatzt, weil die Koalition mit ihrer Mehrheit zum wiederholten Mal in den Fachausschüssen unbequeme Gesetzesvorlagen des Bundesrates von der Tagesordnung stimmte.

"So kann das Verfassungsorgan Bundestag mit dem Verfassungsorgan Bundesrat nicht umgehen", lautet der Kommentar von Linke-Fraktionssprecher Hendrik Thalheim. Da habe sich bis Donnerstagabend entsprechend viel "Unmut angesammelt".

Gleichwohl wirkte Wunderlichs geglückte Attacke auf die Beschlussfähigkeit seltsam wirr. Der habe wohl "ein Rad ab", twitterte selbst Grünen-Geschäftsführer Volker Beck. Und kleinmütig räumten auch die Linken ein, die Aktion des Kollegen sei "vielleicht nicht zu Ende gedacht" gewesen.

Aus Protest gegen zu wenig Debatten die verbleibenden Debatten verhindern? In diesem Punkt hat die Linke die Tagesordnungen der nächsten Sitzungen noch enger gemacht. Doch das grundsätzliche Problem bleibt: Wie vermeidet der Bundestag, sich selbst immer mehr zur Farce zu machen? Die SPD plant eine Parlamentsreform mit der Unterscheidung von Anliegen, die durchs Plenum müssen, und solchen, die auch die Ausschüsse entscheiden können. Erfolgsaussicht? Fraglich.

(may-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort